An das erste Mal kann sich Arthur Albert (73) aus Wagen SG noch ganz genau erinnern. Es war 1984 beim Bahnhof Zürich-Wiedikon. Mit dem Intercity fuhr der Lokführer in Richtung Zürich. «Plötzlich stand da dieser Anzugträger. Er hat mich wie gebannt angeschaut. Dann lief er einfach los», sagt Albert, «und ich hörte in meinem Führerstand nur noch die Knochen brechen. Überall war Blut.» Drei Tage später stand er wieder im Führerstand. Doch die Erinnerungen liessen ihn nicht los.
Mit 27 Jahren fängt Albert als Lokführer bei den SBB an.
Er fährt Güter-, Intercity- und S-Bahn-Züge. 15 Jahre lang geht alles gut. Dann kommt es Schlag auf Schlag: Allein zwischen 1989 und 1990 hat der Lokführer vier «Personenunfälle». So lautet die offizielle Bezeichnung bei den SBB – aus Angst vor Nachahmern.
Pro Monat nehmen sich durchschnittlich 14 bis 15 Menschen auf diese Weise das Leben. Für die Selbstmörder ist nach wenigen Sekunden alles vorbei. «Was das aber für die Lokführer bedeutet, daran denken die wenigsten», sagt der Rentner. «Ich wusste, dass ich nichts dafür kann. Aber ich habe mich trotzdem jedes Mal wie ein Mörder gefühlt.»
Wegen fahrlässiger Tötung angeklagt
Das Schlimmste: Früher wurden Lokführer nach einem solchen Unfall auch so behandelt. Statt psychologischen Beistand zu erhalten, wurde Arthur Albert jedes Mal wegen fahrlässiger Tötung angeklagt. «Ich wurde zwar immer freigesprochen. Aber die Einvernahmen haben mich sehr belastet.» Deshalb ärgert er sich auch so über das Verhalten der Selbstmörder: «Es macht mich wütend, dass sie nicht nur sich selbst, sondern auch uns Lokführer ins Verderben ziehen.»
Sechs Menschen überfuhr Albert in seiner 33-jährigen Dienstzeit. Der schlimmste Unfall passierte 1989 zwischen Wald und Rüti im Zürcher Oberland: Der Lokführer fuhr in eine Gruppe Gleisarbeiter. Sie alle trugen Kopfhörer wegen des Lärms und konnten den Zug nicht hören. Drei konnten sich retten, zwei schafften es nicht: «Ich habe die Panik in ihren Gesichtern gesehen, geschrien, gehupt – es hat nichts geholfen.» Mit 58 wird Arthur Albert frühpensioniert. Er ist traumatisiert, hat Albträume, wird die Erinnerungen nicht los: «Ich habe meinen Job geliebt. Aber nach dem ersten Unfall fuhr die Angst immer mit.» Heute, 15 Jahre später, geht es ihm wieder gut. Er weiss aber auch: «Viele zerbrechen an solchen Erlebnissen.»
SBB geht gegen Bahnsuizide vor
Das wissen auch die SBB und versuchen deshalb, Bahnsuiziden aktiv vorzubeugen. Patrouillen an Bahnhöfen sollen potenzielle Selbstmörder von ihrer Tat abhalten. Dafür werden bis Ende nächsten Jahres 10 000 Mitarbeiter speziell geschult. Ausserdem soll der Zugang zu den Gleisen erschwert werden. Albert findet das gut, weiss aber: «Es wird trotzdem immer wieder passieren. Und damit müssen die Lokführer am Ende ganz allein fertigwerden.»