Forscher haben das Sagen
Könige des Konjunktivs

Nie hatten die Experten mehr Macht im Staat. Das Problem: Entscheide zu fällen, die reale Konsequenzen haben, ist nicht Aufgabe der Wissenschaft.
Publiziert: 03.05.2020 um 13:23 Uhr
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Aktualisiert: 07.05.2020 um 15:19 Uhr
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Nutzen Masken oder nicht? Die Forscher sind uneinig (Im Bild: Skulptur mit Maske in Niedersachsen).
Foto: keystone-sda.ch
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Harry S. Truman soll einmal verzweifelt ausgerufen haben: «Bringt mir ­einen einhändigen Ökonomen!» Seine Wirtschaftsberater hatten den US-Präsidenten auf die ­Palme gebracht, weil sie jede Antwort mit «on the one hand, on the other hand» (Englisch für ­einerseits, andererseits) begannen.

Heute, sieben Jahrzehnte nach Trumans Amtszeit, wird so sehr auf Wissenschaftler gehört wie kaum je zuvor. Neben den Ökonomen auf Virologen, Epi­demiologen und Mediziner. Statt auf das Parlament nimmt die ­Regierung im Corona-Lockdown Rücksicht auf Expertenräte.

Nun hätte ein Laie erwarten können, dass dadurch die Entscheide der Exekutive so konzis und klar werden wie die Hypo­these einer Seminararbeit. Endlich regiert der Rationalismus! Ohne lästige Störung durch die von ­Taktik geprägte Tagespolitik.

Allgemeine Verwirrung

Doch weit gefehlt. Stattdessen herrscht allgemeine Verwirrung. Erst sagt der oberste Seuchenjäger des Bundes, Daniel Koch (65), dass ­Corona-Massentests nichts brächten. Dann, am 22.April, kündigt die Behörde eine Aufstockung der Tests an. Zunächst wurden Schutzmasken als nutzlos deklariert. Gleichzeitig aber gilt für Angestellte, die dem Ansteckungsrisiko besonders ausgesetzt sind, die Maskenpflicht. Über Wochen trimmte der Bundesrat die Bevölkerung auf eine Minimierung des öffentlichen Lebens und auf eine lange Leidenstour. Dann hat er zur allgemeinen Verblüffung eine Turbo­lockerung verkündet.

Schliesslich das Thema Kinder: kein Kontakt mit den Grosseltern! Schulen zu! Dann gibt Koch Entwarnung: Enkel umarmen ja, ­Enkel hüten nein. Damit landet er sogar auf BBC News. Und während die Schulen öffnen, ertönen jenseits des Rheins ganz andere Signale: Kinder seien genauso an­steckend wie Erwachsene, sagt der Virologe Christian Drosten (48).

Extrem­szenarien – ein gefundenes Fressen für die Medien

Spezielle Zeiten bringen spe­zielle Medienstars hervor. Das sind nicht etwa jene Forscher im Labor, die auf der Jagd nach ­einem Impfstoff sind, sondern die Statistiker. Zum Beispiel die Epidemiologen Christian Althaus (41) von der Uni Bern oder Marcel Salathé von der EPFL.

Salathé machte 2014 Furore, weil er Twitter nach #Grippe absuchte und damit die Verbreitung von ­Influenza ermittelte. Althaus rechnet mit Modellen. Und weil man mit Modellen auch Extrem­szenarien entwerfen kann, sind Epidemio­logen ein gefundenes Fressen für die Medien.

Während der Ebola-Epidemie 2014 machte Althaus gegenüber SRF geltend, nach seinem ­Modell «könnte im Extremfall die Anzahl an Ebola erkrankter Menschen auf bis zu 100 000 ansteigen». Schliesslich wurden 28 000 Infizierte registriert.

Als ihm «NZZ»-Journalisten am 26. Februar vorrechnen, bei drei Millionen Corona-Infizierten würde es in der Schweiz 30 000 Tote geben, sagt Althaus im Interview nicht: «Das ist für mich jetzt sehr spe­kulativ.» Er sagt: «Ja. Ein solches Worst-Case-Szenario ist nicht ausgeschlossen.» Die entsprechenden Schlagzeilen folgten wie das Amen in der Kirche. Und natürlich die Medienkritik.

Erst die Politik gewährt gesellschaftliches Gleichgewicht

Sogar die erwähnte Extrem­annahme lässt sich locker über­treffen. Am 30. März bemüht SRF ­Epidemiologe Richard Neher (40) von der Uni Basel und titelt: «97 000 Menschen könnten sterben.» Bis jetzt wurden in der Schweiz 1467 Covid-19-Todesopfer registriert. Mit solchen Spielereien hat man nichts zu befürchten: Liegt man daneben, ist das auf die Massnahmen zurückzuführen, die man empfohlen hat. Die Magie des Zirkelschlusses: «Morgen wird es regnen. Und wenn nicht, scheint die Sonne.» Und die entstandene Verunsicherung? Darum kann sich der Staat kümmern.

Der Wissenschaftler maximiert die Komplexität. Er denkt in ­Möglichkeiten und erkundet, seit Aristoteles, die Welt in kleinen Schritten von Versuch und Irrtum. Befreit von der Last irdischer Zwänge. Ein Schlüsselwerk des vielleicht wortreichsten Aufklärungskritikers der Moderne, Friedrich Nietzsche, heisst nicht zufällig «Fröhliche Wissenschaft».

Der Politiker hingegen muss unter Rücksichtnahme von Partialinte­ressen ein gesellschaftliches ­Gesamtziel erreichen. Erst das politische System gewährt das Gleichgewicht der gesellschaftlichen Kräfte.
Auch wenn ohne die Erkenntnisse von Forschern keine Politik zu machen ist – von zweihändigen Forschern natürlich.

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