Der St. Galler Kita-Betreuer René W.* (33) soll mindestens zwei Buben unter zwei Jahren sexuell missbraucht haben. Kinder- und Jugendpsychiater Frank Köhnlein (51) hat immer wieder mit jungen Missbrauchsopfern und deren Angehörigen zu tun. Er weiss: Im Fall von Kleinkindern ist es besonders schwierig, einen sexuellen Missbrauch auszumachen. «Die kleinkindliche Seele hat noch nicht so viele Ausdrucksmöglichkeiten, ihre seelische Not zu zeigen», sagt Köhnlein zu BLICK.
Die verbalen Fähigkeiten, sich zu artikulieren, sind in diesem Alter zudem sehr eingeschränkt. «Sobald aber beim Kind ein Verhalten neu auftritt, für das die Eltern keine plausible Erklärung haben, sollte die Warnlampe angehen», so der Kinderpsychiater. Nur: Selten seien die Anzeichen eindeutig.
40 Prozent missbrauchter Kinder zeigen keine Symptome
«Die Hinweise auf einen vorangegangen Missbrauch können facettenreich sein – von vermehrter Anhänglichkeit, Weinerlichkeit, Daumenlutschen und Nägelkauen bis hin zum Meiden von Orten, Personen und Situationen», so Köhnlein. Und dennoch: Bei bis zu 40 Prozent der Kinder, die sexuell missbraucht wurden, würden sich keinerlei Folgen zeigen.
«Die Symptome zeigen sich oft erst Jahre später», sagt der Kinderpsychiater. Als Folge eines Missbrauchs in früherer Kindheit ist es möglich, dass das Opfer sich im Schulalter plötzlich einnässt. Bei anderen Opfern kommt die Erinnerung an den Missbrauch erst im Erwachsenenalter zutage. Auslöser dafür kann eine erneute Konfrontation mit einer Missbrauchssituation oder auch eine Schwellensituation wie etwa die erste sexuelle Beziehung sein.
Je jünger das Missbrauchsopfer, desto besser die Prognose
Im Fall der St. Galler Kita kann Köhnlein nachvollziehen, dass die Eltern wegen des Wohls ihres Kindes besorgt sind. Der Kinderpsychiater mahnt zur Vorsicht: «Fragen Sie Ihr Kind nicht tatspezifisch aus!» Denn das könne fatale Folgen haben. «Schlimmstenfalls könnten die Kinder aufgrund suggestiver Fragen plötzlich zu Opfern werden, die sie möglicherweise gar nicht sind.» Köhnlein rät stattdessen, das Kind eher allgemein nach seinem Befinden und allfälligen Veränderungen zu fragen und bei Unsicherheit professionelle Hilfe zu suchen.
«Für die beiden Buben stehen die Prognosen, dass sie trotz des Missbrauchs ein normales Leben führen können, prinzipiell gut. Vorausgesetzt sie erfahren jetzt Schutz und Halt und erleben keine weitere Traumatisierung», sagt der Kinderpsychiater.
* Name geändert
Frank Köhnlein (51) hat als Kinder- und Jugendpsychiater eine eigene Praxis in Basel. Zuvor war er als Oberarzt an der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik in Basel tätig. Er verfasst Beiträge in Fachbüchern und Fachzeitschriften und ist zudem Autor zweier Krimis.