Recep Tayyip Erdogan (55) hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, was der wahre Charakter seiner Mission ist. Bereits 1997, kurz bevor er wegen religiöser Hetze verurteilt wurde, zitierte der damalige Oberbürgermeister von Istanbul aus einem Gedicht: «Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette und die Gläubigen unsere Soldaten.»
Soldaten des Glaubens sollen nach Erdogans Willen schon die Kleinsten werden – auch in der Schweiz. Wie Gefolgsleute des heutigen türkischen Machthabers vorgehen, zeigen Recherchen von SonntagsBlick an einem aktuellen Beispiel.
Über Weihnachten liess der türkische Staat Schweizer Primarschüler in einem Ferienlager in Melchtal OW indoktrinieren – für die Dauer von sechs Tagen.
Intensiver Koranunterricht
Auf den ersten Blick wirkte das Wintercamp harmlos. Fotos zeigen lachende Buben und Mädchen. Sie üben Pfeilbogenschiessen, spielen Billard, schlitteln in der idyllischen Berglandschaft Obwaldens. Doch das Lager ist mehr als ein Freizeitvergnügen, wie andere Bilder des Lagerlebens beweisen: Mädchen – noch keine zehn Jahre alt – in eng gebundenen Kopftüchern. Betende Schüler, strikt nach Geschlechtern getrennt. Und immer wieder: Intensiver Koranunterricht, gemeinsame Anrufung Allahs, Weiterbildung in türkischer Kultur.
Hinter der Organisation des Ferienlagers steckt die Türkisch-Islamische Stiftung für die Schweiz (TISS), ein direkter Ableger des Religionsministeriums Diyanet in der türkischen Regierungshauptstadt Ankara. Die staatliche Behörde verfügt über ein Milliardenbudget und beschäftigt mehr als 100'000 Mitarbeiter.
Als Leiter und Lehrer im Obwaldner Wintercamp agierten auch von Ankara entsandte Prediger. Einer von Erdogans Imamen ist I. G.*. Er stammt aus Hatay, der südöstlichsten türkischen Provinz an der Grenze zu Syrien. Derzeit predigt G., bezahlt vom türkischen Staat, in der Diyanet-Moschee von Neuenburg.
Stimmung gegen Homosexuelle und Israel
Was er den Primarschülern in Melchtal mit auf den Weg gab, ist unklar. Doch wie er denkt, ist bekannt. Auf Facebook macht G. Stimmung gegen Homosexuelle, ruft zum Kampf gegen Israel, verherrlicht die islamistischen Muslimbrüder. Im Ferienlager trug er stets einen roten Fes, Symbol für das Osmanische Reich. Von dem untergegangenen islamischen Kalifat träumt auch der autoritäre Erdogan.
Mit seiner nationalistischen, radikal-islamischen Einstellung liegt Imam G. ganz auf der Wellenlänge von Diyanet. In einer Fatwa, einem islamischen Rechtsgutachten, forderte die Religionsbehörde jüngst Verlobte in der Türkei dazu auf, in der Öffentlichkeit weder zu flirten noch Händchen zu halten. Der Islam billige das nicht.
2016 verherrlichte die Behörde in einem Comic für Kinder das Sterben als Märtyrer des Glaubens. In Diyanet-Moscheen Europas wurde in den letzten Monaten für die «Märtyrer» des Syrien-Feldzugs gebetet.
Treffen mit Erdogan in Genf
Wie eng die Kontakte mehrerer Lagerleiter zum türkischen Machtapparat sind, zeigen Treffen zwischen ihnen und Staatschef Erdogan. Das letzte fand erst fünf Tage vor dem Wintercamp statt, beim Besuch des türkischen Autokraten in Genf. Imam I. G. sowie eine weitere Lagerleiterin – eine Funktionärin von Diyanet Schweiz – trafen dort persönlich mit Erdogan zusammen.
Ferienlager für schweizerisch-türkische Kinder haben eine lange Tradition. Seit Jahrzehnten organisieren hierzulande vor allem Moscheevereine solche Camps. Die Diyanet-Lager jedoch bereiten Mitgliedern der türkischen Community zunehmend Sorgen.
Die Anlässe hätten sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Waren die Leiter früher gut integrierte, in der Schweiz wohnhafte junge Türken, sind es heute Imame, die aus dem Heimatland am Bosporus entsandt wurden, kaum Deutsch sprechen und bedingungslos auf Erdogans Kurs eingeschworen sind.
Angst vor Repressalien des türkischen Staats
«Die heutigen Diyanet-Ferienlager fördern Parallelgesellschaften und sind Gift für die Integration der Schüler in der Schweiz», sagt ein hier lebender Türke, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will – zu gross ist seine Angst vor Repressalien des türkischen Staats. Der Mann hat als Jugendlicher selbst an ähnlichen Wintercamps teilgenommen. Diyanet reagierte nicht auf Anfragen von SonntagsBlick.
Dass Recep Tayyip Erdogan seine Herrschaft auch auf der Unterstützung linientreuer Auslandstürken aufbaut, die sich ihm und ihrer alten Heimat stärker verpflichtet fühlen als dem Land, in dem sie leben – auch daraus machte der islamische Autokrat aus Istanbul nie ein Geheimnis.
Bereits 2010 forderte er seine Landsleute bei der Rede zur Eröffnung einer Moschee in Köln (D) auf, sich nicht von ihren Gastgeberländern integrieren zu lassen: «Niemand kann erwarten, dass Sie sich einer Assimilation unterwerfen. Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit!»
* Name bekannt