Die Zahl der Corona-Toten in der Schweiz nähert sich der Zehntausendermarke. Viele starben allein, kaum jemand durfte von ihnen Abschied nehmen. Es ist eine der grössten Tragödien, die das Land je erlebt hat.
In den meisten anderen Nationen hat die Politik das stille Sterben längst zum Katastrophenfall erklärt. Italien führte per Gesetz einen jährlichen Gedenktag für die Opfer der Pandemie und ihre Angehörigen ein. Spanien rief bereits im Mai des vergangenen Jahres eine zehntägige Staatstrauer aus. US-Präsident Joe Biden und Vizepräsidentin Kamala Harris hielten an einer offiziellen Gedenkzeremonie inne, die Fahnen im ganzen Land wehten auf halbmast. Und Deutschland plant für den 18. April eine zentrale Gedenkfeier mit der gesamten politischen Spitze des Landes.
Nur in der Schweiz bleibt es still. Ohrenbetäubend still. Was tut der Bundesrat? Nachdem Hinterbliebene dem Bund Gleichgültigkeit den Opfern gegenüber vorgeworfen hatten, diskutierte die Regierung an einer Sitzung im Dezember darüber, ob und wie durch einen symbolischen Akt der Toten gedacht werden könnte.
Das ist zwei Monate her. Ein Ergebnis der Sitzung wurde nie kommuniziert. Heute sagt Ursula Eggenberger, Sprecherin der Bundeskanzlei: «Der Bundesrat hat sich mit der Frage eines Gedenkanlasses befasst, die Bewältigung der fortwährenden Pandemie hat für ihn indes Priorität.» Weitere Nachfragen wollen weder Eggenberger noch Bundesratssprecher André Simonazzi beantworten.
Trauertag für Tsunamiopfer
Nicht immer stand die offizielle Schweiz dermassen im Abseits, wenn es darum ging, um die Opfer von Katastrophen zu trauern. Als 2004 ein Tsunami über die Küsten in Südostasien hereinbrach und auch 113 Schweizerinnen und Schweizer in den Tod riss, gedachte die Eidgenossenschaft der Opfer mit einem nationalen Trauertag, einem zentralen Gottesdienst im Berner Münster, 15 Minuten Glockengeläut im ganzen Land – und Fahnen auf halbmast.
Trauerbeflaggung ordnete der Bundesrat auch bei diversen anderen Tragödien an, etwa dem Crossair-Absturz 2001, bei dem 24 Menschen starben, nach einem Busunglück im Wallis mit 28 Toten oder einem Terroranschlag in Burkina Faso 2016, dem zwei Schweizer zum Opfer fielen, darunter der ehemalige Post-Chef Jean-Noël Rey.
Simon Peng-Keller ist Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich und daher Experte für Tod und Trauer. Er sagt: «Der Mensch ist ein soziales Wesen. Alleine zu trauern, ist unmenschlich und macht krank.» Dies gelte umso mehr bei einer kollektiven Katastrophe wie der aktuellen Pandemie.
Peng-Keller: «Es wäre wichtig, dass der Bundesrat die Initiative für eine öffentliche Gedenkfeier ergreift.» Trauer müsse zur Sprache kommen, einen Ausdruck finden, gemeinschaftlich gewürdigt werden. Es brauche einen Anlass, der auch das Leiden derjenigen einbezieht, die nicht am Virus gestorben sind, von der Pandemie aber in anderer Weise schwer getroffen wurden – etwa durch schwere Krankheitsverläufe, monatelange Isolation oder Arbeitslosigkeit. «Ein solches Gedenken könnte helfen, wieder zu der gesamtgesellschaftlichen Solidarität zurückzufinden.»
Die Tatenlosigkeit der Schweizer Landesregierung irritiert auch die Mitwirkenden der Corona-Mahnwachen. Die Bewegung aus Privatpersonen organisiert auf eigene Faust seit Monaten Gedenkanlässe in Schweizer Städten. Vor einer Woche zündeten sie auf dem Bundesplatz 9200 Kerzen an – eine für jeden Covid-Toten in der Schweiz.
Kein Wort des Bedauerns
Die Mahnwachen seien das Werk vieler, deshalb will die Gruppe nur als Ganzes auf Fragen von SonntagsBlick antworten und nicht im Namen einer Einzelperson. «Der Bundesrat äussert kaum ein Wort des Bedauerns zu den Todesfällen», kritisieren die Aktivisten.
Warum er das nicht tut, erklären sie sich so: «Der Bundesrat meint, es könne zwischen dem Schutz von Menschenleben und gesellschaftlichen Freiheiten nur einen Mittelweg geben, und deshalb sei der Verlust von Menschenleben nicht zu vermeiden.»
Doch das sei falsch. «Indem wir möglichst rasch null Neuinfektionen erreichen, können wir möglichst alle Menschen schützen und gleichzeitig möglichst rasch auch unsere gesellschaftlichen Freiheiten zurückerlangen.»
Die Aktivisten mahnen: «Wir brauchen mehr Mitgefühl für all die Schicksale und für die Angehörigen der Opfer.» Es sei wichtig anzuerkennen, wie viel Leid entstanden sei und dass die Hinterbliebenen Raum erhalten, ihre Trauer zu teilen.
In die Bresche springen wollen nun die Landeskirchen. Hinter den Kulissen bereiten sie Traueranlässe für die Ostertage vor. Wie diese genau aussehen werden, ist noch nicht klar.
Ursprünglich stand im Mittelpunkt der Überlegungen eine ökumenische Gedenkfeier, die live im Fernsehen hätte übertragen werden sollen. Diese Idee ist nun aber vom Tisch – zumindest vorerst.
Neu will die katholische Kirche am 29. März in allen Bistümern Gedenkfeiern für die Opfer der Pandemie abhalten, wie Encarnación Berger-Lobato, Sprecherin der Schweizer Bischofskonferenz, gegenüber SonntagsBlick bestätigt. Die Bischöfe werden Mitte Woche darüber befinden.
Von Montag bis Freitag meldet der Bund täglich die neusten Corona-Todeszahlen – anonym, neutral, emotionslos. Wir nehmen sie wie Börsendaten zur Kenntnis.
Dabei steht hinter jeder Zahl ein Mensch. Es sind Tausende. Und kaum jemand konnte von ihnen Abschied nehmen. Das ist eine kollektive Katastrophe, die noch immer wie eine Reihe individueller Schicksalsschläge behandelt wird.
Und so trauert in diesen endlosen Monaten jeder für sich, ohne Sinn für das gesamtgesellschaftliche Trauma, das wir gerade durchleben.
Es wäre am Bundesrat, den Raum für gemeinsame Trauer zu schaffen. Mit einem nationalen Gedenktag etwa, wie ihn viele andere Staaten längst hatten. Doch die Landesregierung verdrängt das grosse Sterben – bis heute.
Die Tatenlosigkeit der Verantwortungsträger ist beschämend. Fürchten sie sich etwa vor einem landesweiten Gedenken?
Kollektive Trauer kann Macht entfalten. Wut auslösen. Und an gesellschaftlichen Machtverhältnissen rütteln. Vor allem aber stellt sie die Frage nach der Verantwortung.
Gut möglich, dass Bern Angst davor hat, dass ein Staatsgedenken von der Bevölkerung als Eingeständnis gelesen wird. Als Eingeständnis, Fehler begangen zu haben. Doch da muss der Bundesrat durch.
Die Trauer kann nicht bis zum Ende der Pandemie warten. Sie ist bitter nötig. Aus Solidarität mit den Betroffenen. Gegen das Vergessen der Toten – und als Mahnung an die Davongekommenen.
Fabian Eberhard
Von Montag bis Freitag meldet der Bund täglich die neusten Corona-Todeszahlen – anonym, neutral, emotionslos. Wir nehmen sie wie Börsendaten zur Kenntnis.
Dabei steht hinter jeder Zahl ein Mensch. Es sind Tausende. Und kaum jemand konnte von ihnen Abschied nehmen. Das ist eine kollektive Katastrophe, die noch immer wie eine Reihe individueller Schicksalsschläge behandelt wird.
Und so trauert in diesen endlosen Monaten jeder für sich, ohne Sinn für das gesamtgesellschaftliche Trauma, das wir gerade durchleben.
Es wäre am Bundesrat, den Raum für gemeinsame Trauer zu schaffen. Mit einem nationalen Gedenktag etwa, wie ihn viele andere Staaten längst hatten. Doch die Landesregierung verdrängt das grosse Sterben – bis heute.
Die Tatenlosigkeit der Verantwortungsträger ist beschämend. Fürchten sie sich etwa vor einem landesweiten Gedenken?
Kollektive Trauer kann Macht entfalten. Wut auslösen. Und an gesellschaftlichen Machtverhältnissen rütteln. Vor allem aber stellt sie die Frage nach der Verantwortung.
Gut möglich, dass Bern Angst davor hat, dass ein Staatsgedenken von der Bevölkerung als Eingeständnis gelesen wird. Als Eingeständnis, Fehler begangen zu haben. Doch da muss der Bundesrat durch.
Die Trauer kann nicht bis zum Ende der Pandemie warten. Sie ist bitter nötig. Aus Solidarität mit den Betroffenen. Gegen das Vergessen der Toten – und als Mahnung an die Davongekommenen.
Fabian Eberhard