Leandra Flury brennt auf einen Einsatz. Das Spiel zwischen ihren Grasshoppers Zürich und den FC-Basel-Frauen ist umkämpft, es geht um den Einzug in den Halbfinal des Schweizer Cups. Die zweite Halbzeit läuft, als die Ersatzspielerin am Spielfeldrand mit dem Aufwärmen beginnt. Es sind nicht viele Leute im Stadion in Basel. Darum kann sie die zwei Männer hinter der Abschrankung ganz genau verstehen. «Die beiden Herren», wie Leandra Flury sie heute, mit etwas Distanz, spöttisch nennt. Gleich nach jenem Cupspiel im Februar waren es noch «Vollidioten».
Als Flury sich dehnt, machen die beiden Zuschauer Stöhngeräusche im Takt ihrer Übungen. Sie kommentieren ihren «geilen Arsch». Als die GC-Spielerin in einen Müesliriegel beisst, rufen sie: «Ah ja, geil, gibs dem Riegel, dann wirst du noch ein bisschen fetter.» Geschlagene 20 Minuten dauern die Herabwürdigungen und sexistischen Beleidigungen – ohne dass jemand gegen das Verhalten der «Herren» vorgegangen wäre.
Onlinekommentare spielen Belästigungen herunter
Später wird die junge Frau in den Onlineforen Kommentare lesen wie: Halb so wild, im Stadion sei der Ton halt etwas rauer. Oder: Als Fussballerin sei sie nun mal eine Projektionsfläche, deshalb verdiene sie ja auch Geld damit.
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Alle Infos zum Prix Courage des «Beobachters» findest du hier.
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Oder dieser Ratschlag in zweifelhaftem Deutsch: «C’mon, ein dummer Spruch kann man auch einfach mal ignorieren.» Genau das tut Leandra Flury an jenem Tag nicht. Die Pöbler haben mit ihrem Verhalten eine rote Linie überschritten: Sie will nicht länger weghören und so tun, als sei nichts. Will sich nicht mehr machtlos ausgestellt fühlen und ihren Körper taxieren lassen, wie in diesen endlosen Minuten am Spielfeldrand.
Während der Tirade brodelt es in ihr, sie ist nahe dran, den beiden Männern ihre Trinkflasche anzuwerfen. Aber noch schafft sie es, ihre Wut im Zaum zu halten. Schliesslich ist sie als Sportlerin im Einsatz und vertritt die Werte ihres Vereins. «In diesem Moment Gewalt anzuwenden, hätte der Sache mehr geschadet als genützt.»
Revanche auf Instagram
Doch nach dem – verlorenen – Spiel, auf der Heimfahrt im Car, packt sie die «Sache» an: Leandra Flury schildert den Vorfall auf Instagram unverblümt. Der Text in Mundart über die «zwei sexistische Vollidiote» ist mit einem Foto der beiden Täter unterlegt, das die Teamfotografin zuvor gemacht hat. Die Gesichter sind mit Clown-Emojis abgedeckt. «Ich war so hässig und musste irgendwo hin mit meiner Wut.»
Die Rückfrage bei ihrer besten Freundin gibt Leandra Flury eine erste Bestätigung: Sie hat es richtig gemacht, nicht überreagiert, sondern einen Nerv getroffen. Flury sagt: «Letztlich wollte ich mit dem Insta-Post einfach aufzeigen: Hey, schaut mal, solche Dinge passieren dir als Frau – nicht bloss im Sport, sondern überall. Es ist eine Normalität in unserem Alltag.» Die 25-Jährige steht mitten im Leben. Sie hat Kleinkindererzieherin gelernt, machte danach die Berufsmaturitätsschule. Und ging mit einem Sportstipendium für zwei Jahre in die USA. «South Alabama, furchtbar konservativ. Aber mich als Person hat diese Zeit weitergebracht.»
Top-Spielerin mit 150-Prozent-Pensum
Heute studiert Flury Soziale Arbeit an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und absolviert ein Praktikum im Sozialdienst einer Gemeinde. Dazu kommt ein Mini-Job als Kommentarmoderatorin im Verlagshaus Ringier, das auch den Beobachter herausgibt. Daneben hilft sie als Sozialpädagogin an einer Schule aus. Und natürlich der Fussball auf Spitzenniveau. «Zusammen ein 150-Prozent-Pensum», sagt sie mit schiefem Grinsen.
Steile Fussballkarriere
Zum Fussball kam Leandra Flury schon als Fünfjährige im Verein ihres Heimatorts Niederweningen im Zürcher Unterland, dort lebt sie noch heute. 2010 der Wechsel in den Nachwuchs des FC Zürich, wo sie bis in die U21 aufstieg. Nach der Zeit in den USA konnte sie im «Eins» der FCZ-Frauen Fuss fassen, verletzte sich aber bald darauf schwer. Im letzten Jahr dann der Neuanfang bei GC in der Women’s Super League. Position und Profil: kampfstarke Verteidigerin.
Flury gehört zur Generation, die den Boom des Mädchen- und Frauenfussballs hautnah miterlebt hat. Bereits sind in der Schweiz über 41’000 Spielerinnen lizenziert, allein in den letzten zwei Jahren ist diese Zahl um 30 Prozent gewachsen. Seit das Fernsehen Spiele überträgt, steigt auch die öffentliche Beachtung. Leandra Flury, damals noch beim FCZ, erinnert sich an den Cupsieg 2022: 8000 Zuschauer im Letzigrund, die Südkurve machte den Frauen ihre Aufwartung. «Heute können Fussballmeitli von solch grossen Sachen träumen», sagt sie. Die Frauen-Europameisterschaft, die 2025 in der Schweiz stattfindet, dürfte diese Entwicklung weiter antreiben.
Dem Frauenfussball fehlen Plätze und Trikots
Die Wetterlage auf der grossen Bühne also: zunehmend sonnig. Dahinter: immer noch bewölkt. Denn im Kleinen müssen sich die Mädchen und Frauen ihren Platz in der angestammten Männerdomäne Fussball mühsam erkämpfen. Nach wie vor mangelt es vielerorts an separaten Garderoben für sie. Es gibt Frauenteams, die in Männertrikots spielen, weil eigene Tenues fehlen. Während für die Trainings der Junioren die schönen Rasen reserviert sind, mühen sich die Juniorinnen auf holprigen Schulhauswiesen ab.
Und wehe, sie drehen den Spiess um. «Was sucht ihr hier? Ihr macht den Rasen kaputt. Zieht eure Ballettschuhe an!» Das bekam Leandra Flury als Nationalliga-Spielerin von einem Funktionär zu hören, als ihr Team bei schlechtem Wetter auf dem Naturrasen trainierte. Nichts bringe die Geringschätzung treffender zum Ausdruck als dieser Satz, findet sie. «Als Frau, die Fussball spielen will, wirst du zuerst einmal in Frage gestellt.»
Übergriffe sind eine Verletzung von Menschenrechten
Oder sie wird auf ein Objekt reduziert und Opfer von Machtspielen und sexistischen Anfeindungen. Für das, was Leandra Flury im Basler Stadion passiert ist, findet Agota Lavoyer klare Worte: «Eine Verletzung der sexuellen Integrität eines Menschen ist eine Menschenrechtsverletzung. Punkt.» Die Expertin für sexualisierte Gewalt und Opferberatung teilte Flurys Instagram-Beitrag und sorgte so dafür, dass der Übergriff schlagartig breite Beachtung fand – und dass die Sportlerin in den Medien zur Fahnenträgerin einer öffentlichen Auseinandersetzung mit der Thematik wurde.
Dass es eine solche Debatte gibt, findet Agota Lavoyer «enorm wichtig» und auch überfällig. «Sexualisierte Belästigung ist im Leben von Frauen omnipräsent», sagt sie. «Deshalb müssen wir Täter und ihre Taten öffentlich benennen, ansonsten stützen wir die gegenwärtigen Machtverhältnisse in der Gesellschaft.» Dabei gebe es für Betroffene viele gute Gründe, sexualisierte Gewalt nicht offenzulegen, so Lavoyer. Ein solcher Schritt erfordere Mut. «Denn jede Frau weiss, wie gross das Risiko ist, daraufhin beschämt, beschuldigt und abgewertet zu werden.»
Reaktionen unter der Gürtellinie
Auch Leandra Flury erhielt unliebsame, beleidigende Reaktionen, auch solche unter der Gürtellinie. Viele davon ignorierte sie, andere Absender erhielten eine Antwort. Flury-like etwa so: «Ich wünsche dir viel Liebe im Leben – aber komm bitte nie mehr Frauenfussball schauen.»
Mehrheitlich gab es aber Zuspruch. Männer entschuldigten sich für ihre Geschlechtsgenossen, Frauen bedankten sich: «Endlich sagt mal jemand, wie es sich anfühlt, was wir dauernd erleben.» In diesem Sinn äusserten sich auch Fussballkolleginnen, die durch die ständigen Sprüche und Sticheleien längst abgestumpft sind.
Anzeige gegen unbekannt
Unmittelbar nach dem Vorfall im Februar verurteilten die beiden Clubs GC und FC Basel den Übergriff in einem gemeinsamen Communiqué scharf. Die beiden Täter konnten bislang jedoch nicht identifiziert werden, schreibt die FCB-Medienstelle auf Anfrage. Leandra Flury hat unterdessen trotzdem Strafanzeige gegen unbekannt wegen sexueller Belästigung erstattet.
Grosse Hoffnungen, dass «die beiden Herren» belangt werden können, macht sich Flury nicht. Ihr geht es um die Symbolik dahinter. Bei jeglicher Form von sexueller Gewalt gebe es einen riesigen Graubereich, sagt sie. «Mit der Anzeige wollte ich manifest machen, dass es diese Taten gibt, und sei es nur durch eine weitere Zahl in einer Statistik.» Und ganz generell: «Dieser Übergriff war ein Unrecht, und gegen Unrecht soll man sich wehren.» Eine kampfstarke Verteidigerin lässt so schnell nicht locker.
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