Samuel Zülli war neun Jahre alt, als er eine Mitgliedschaft über eine Milliarde Jahre abschloss. Der Bub verpflichtete sich, sich voll und ganz der Sea Organization zu unterwerfen, ihre Werte zu vertreten, ihre Gebote zu befolgen und zum Gelingen ihres Ziels beizutragen.
Es war kein Fantasievertrag unter Kindern, sondern ein Bündnis mit der paramilitärisch organisierten Eliteeinheit der Sekte Scientology. Gegründet wurde der Kult in den Fünfzigerjahren vom US-amerikanischen Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard.
Eigene Mutter steckte tief im Fanatismus
Aus der Milliarde Jahre wurden sieben. Mit 13 trat er in die Sea Org ein, mit Anfang 20 aus – nach einem langen Leidensweg.
Der Prix Courage des «Beobachters» geht in eine neue Runde. Dazu gibt es für Sie eine Artikelserie mit allen Nominierten – und allem rund um den Preis.
Im Zentrum stehen inspirierende Menschen hinter mutigen Taten und unerschrockenem Handeln. Die Preisverleihung findet am 21. November 2024 statt.
Leserinnen und Leser des «Beobachters» werden im Vorfeld dazu eingeladen, ihre Stimme für die überzeugendste Kandidatur abzugeben. Das Publikum und die Jury entscheiden schliesslich über die Gewinnerin oder den Gewinner.
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Alle Infos zum Prix Courage des «Beobachters» findest du hier.
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Zülli, am 25. Mai 1992 als jüngstes von drei Kindern geboren, wuchs im damaligen Basler Hauptsitz von Scientology auf. Seine Mutter, eine glühende Scientologin, liess sich scheiden, als er ein Jahr alt war. Der Vater zog aus. «Als ich zwei war, beschloss sie, in den «spirituellen Hauptsitz» in die USA zu gehen, um eine Clear zu werden.»
Unter «Clear» verstehen Scientologen eine der höchsten Stufen des menschlichen Geistes.
Die drei Kinder blieben zurück
Sie blieb statt einiger Monate ganze zweieinhalb Jahre. Die drei Kinder – zwei, fünf und sechs Jahre alt – hatte sie in Basel bei einem Mann zurückgelassen, den sie kurz zuvor kennengelernt hatte. Er war Mitte zwanzig und hatte keine Erfahrung mit eigenen Kindern. Es sei ein Wunder, dass er sie alle heil durch diese Zeit gebracht habe, sagt Zülli heute. Erst nach ihrer Rückkehr machte sie diesen Mann zum Stiefvater ihrer Kinder.
Zülli war ein schmächtiges, introvertiertes Kind. «Ich mochte Bücher und begann sehr früh, die Schriften von L. Ron Hubbard zu studieren.» Er erinnert sich daran, wie seine Füsse den Boden noch nicht berührten, wenn er damals bei seinen «Schulungen», sogenannten Trainingsroutinen, auf dem Stuhl sass.
Seine Mutter sagte ihm von frühester Kindheit an, er sei ein wiedergeborener Scientologe. Wenn sich der schüchterne Bub bei seiner Mutter beklagte, weil er wieder einmal Pamphlete an wildfremde Passanten verteilen musste, habe sie nur gesagt: «Du bist selber schuld, du hast dir diesen Körper und unsere Familie selber ausgesucht.» Ein normales Gespräch hat er nie mit ihr geführt. «Egal, ob ich eine Frage zum Leben allgemein hatte oder nicht wusste, wie man einen Knopf annäht, sie sagte immer: ‹Lass uns sehen, was Ron dazu sagt›, und holte das entsprechende Buch aus dem Regal.»
Kinder als Erwachsene in kleinen Körpern
«Ein Kind ist ein Mann oder eine Frau, der oder die noch nicht zur vollen Grösse herangewachsen ist. Jedes Gesetz, das auf das Verhalten von Männern und Frauen zutrifft, gilt für Kinder», schreibt L. Ron Hubbard in seinem Buch «Kinder-Dianetik». Und: «Auf das Kind aufpassen? Unsinn! Es hat vermutlich ein besseres Verständnis von unmittelbar bevorstehenden Situationen als Sie.» Dass Kinder wie Erwachsene in kleinen Körpern behandelt werden, bekam Zülli am eigenen Leib zu spüren. Bereits mit acht Jahren – seine Mutter hatte bei der Organisation eine Ausnahmebewilligung eingeholt – wurde er dem «Purification Rundown» unterzogen.
Dies beinhaltet stundenlange Saunagänge sowie die Einnahme einer hohen Dosis Niacin. Eine Überdosierung von Niacin, auch Vitamin B3 oder Nikotinsäure genannt, kann rote Hautausschläge, Blutdruckabfall und Schwindelgefühle auslösen.
«Ich wurde zweimal ohnmächtig. Man holte mich aus der Sauna, wartete, bis ich wieder bei Sinnen war, und steckte mich wieder rein.»
Danach begannen die Auditings. Das sind Befragungen mit Hilfe des sogenannten E-Meters. Sie sollen zurückliegende negative Ereignisse zum Vorschein bringen. Das Gerät funktioniert ähnlich wie ein Lügendetektor: Der Proband hält in beiden Händen einen Draht mit Elektroden. Sie messen den Hautwiderstand. Schlägt die Nadel aus, soll dies Auskunft über den Wahrheitsgehalt des Gesagten geben. Wissenschaftliche Nachweise für die Wirksamkeit fehlen.
Man müsse irgendwelche Taten zugeben, die man nie begangen habe, beispielsweise den Diebstahl eines Apfels. Notfalls gestehe man, dass man den Apfel in einem früheren Leben gestohlen habe, so Zülli. «Es wird gebohrt, bis die Nadel in Richtung «Wahrheit» ausschlägt. Egal, wie lange es dauert.» Man lerne dabei vor allem eins: lügen.
Samuel Zülli war neun, als eine Delegation der Sea Org das Hauptquartier in Basel besuchte. Alle drei Geschwister wurden rekrutiert. «Sie sagten, ich müsste nie mehr in die Schule. Natürlich unterschrieb ich – ich war neun!» Zudem hätten sie Uniformen versprochen. Er habe das toll gefunden. Seine Geschwister wurden nach Dänemark geschickt. Ein Besuch vor Ort war traumatisch für den naturverbundenen Knaben: «Vier Kajütenbetten für sechs Kinder in einem winzigen Raum, keine Bilder, kein Fenster, eine nackte Glühbirne an der Decke. Ich wollte da nicht hin!»
Bootcamp und Fronarbeit
Die Mutter beschloss, mit ihrem Sohn und dessen Stiefvater nach Saint Hill Manor in England zu ziehen, in den ehemaligen Hauptsitz von Scientology. Dort kam der 13-Jährige in die Cadet Organization. Nach ihrer Zeit in der Cadet Org müssen die Kadetten als Vorbereitung für die Sea Org ein mehrere Wochen langes, körperlich und psychisch hartes Bootcamp durchlaufen. Wenn sie das überstanden haben, werden sie vollwertige Mitglieder der Elitetruppe.
Der 16-jährige Zülli wurde zum Küchendienst eingeteilt, ohne Vorkenntnisse oder entsprechende Neigung. «Wir hatten bis zu 16-Stunden-Tage, kochten zu zweit drei Mal am Tag für 350 Personen, mussten einkaufen und putzen.»
Gleich am ersten Tag verbrannte er sich den Unterarm an einem riesigen Backblech. Mitleid gab es keines. «In der Logik von Scientology musste ich etwas Schlimmes gemacht oder Kontakt zu einer feindlichen Person gehabt haben. Sonst wäre mir das nicht passiert.»
Schwulsein gilt als zerstörerische Gefahr
Mit 17 begann er zu realisieren, dass er homosexuell ist. «Es war ein entsetzlicher Schock. Es gibt kaum etwas Schlimmeres bei Scientology, als schwul zu sein. Man gilt als zerstörerisch, als ultimative Gefahr für die Gemeinschaft.»
Zülli sah als einzigen Ausweg, sich das Leben zu nehmen. Damit sein Suizid nicht auf die Sea Org zurückfallen würde, wollte er austreten.
«Ich war irritiert, dass weder meine Selbstmordgedanken noch mein Austritt jemanden kümmerten. Später wurde mir lediglich empfohlen, gegen meine schlechten Gedanken täglich eine halbe Stunde spazieren zu gehen. Und falls mir die Gelegenheit dazu fehlte, sollte ich 20 Minuten auf einen Gegenstand spucken.» Zülli bestrafte sich mit noch mehr Arbeit. Weinte viel.
Mit 20 flog er zurück in die Schweiz zu seinem Stiefvater, der die Sea Org schon vor längerer Zeit verlassen hatte. Saint Hill Manor war weit weg, die quälenden Gedanken blieben. «Nach drei Monaten nahm ich Rattengift, aber mein Körper erbrach alles.»
Insgesamt dreimal versuchte Samuel Zülli, sich das Leben zu nehmen. Den letzten Versuch 2019 überlebte er nur knapp.
Weder Ausbildung noch Schulabschluss
Eine Ausbildung, geschweige denn einen Schulabschluss hatte der heute 32-Jährige damals nicht. «Mitglieder der Sea Org unterrichteten uns mehr schlecht als recht, keiner war Lehrer.»
Züllis Stiefvater besorgte ihm eine Stelle in einem Restaurant. «Es war wundervoll. Ich erhielt einen richtigen Lohn – ganz anders als in England, wo ich oft nur zehn Pfund pro Woche bekommen hatte. Es gab hier geregelte Arbeitszeiten, Pausen – und man durfte sogar Fehler machen!»
Schwules Wirtepaar als erste Ausstiegshilfe
Die Welt von Scientology ist binär. Es gibt Thetane, die geistigen Wesen. Ihr Zustand ist das Ziel jedes Scientologen. Alle anderen sind die Unerleuchteten. In Scientologen-Sprech: «Fleischkörper» oder «rohes Fleisch». Aber nach und nach realisierte Zülli, dass auch «Fleischkörper» gute Menschen sein können. Selbst Schwule, so wie seine beiden Chefs, die Wirte. Und er.
Aus der Sekte half ihm schliesslich auch das Militär. «Während meiner Zeit in der RS konnte ich nicht an Auditings und Kursen teilnehmen.»
Danach wollte Zülli eine Lehre als Koch beginnen. Doch seine Bewerbungen blieben erfolglos.
Schliesslich machte er die Ausbildung im Militär. «Die Bezahlung reichte zum Glück nicht für die Scientology-Kurse, ich entfernte mich immer mehr von der Organisation.»
Kontakte zu Aussteigern dank dem Internet
Mit 23 wagte er sich erstmals ins Internet, etwas Unerhörtes für Scientologen. Er fand Scientology-kritische Inhalte, knüpfte Kontakt mit Aussteigern. Er realisierte, dass andere Menschen liebevolle Eltern haben, die ihre Kinder Kinder sein lassen.
Ende 2017 brach er endgültig mit Scientology. Das bedeutete auch, dass er zu seinen Familienangehörigen, die noch immer in der Sea Org sind, nie mehr Kontakt haben würde.
Ex-Mitglieder auf einer Stufe mit Hitler
Aus ihrer Sicht ist er nun eine «unterdrückerische Person», steht gemäss der Doktrin in einer Linie mit Hitler, Drogenbossen und Napoleon. Weder Scientology UK noch Samuel Züllis Mutter wollten auf Anfrage des Beobachters eine Stellungnahme abgeben.
Nach Erstpublikation dieses Artikels gab Scientology Schweiz eine Stellungnahme ab (siehe weiter unten). Unter anderem sei Zülli nie in der Sauna ohnmächtig geworden, habe nur wenige Stunden Auditing mit anderen als den erwähnten Themen erhalten und mit seiner Familie nicht im Basler Hauptsitz gewohnt.
Samuel Zülli bleibt bei seiner Darstellung der von Scientology kritisierten Behauptungen. In den meisten Punkten steht Aussage gegen Aussage. Beweisbar ist aber, dass die Basler Wohnung, in der er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern aufgewachsen ist, am Herrengrabenweg 56 lag. Dort befand sich in jenen Jahren der Hauptsitz von Scientology Basel. Das Gebäude, eine ehemalige Keksfabrik, gehörte der Sekte und wurde von ihr erst Ende 2011 verkauft.
Erst im letzten Jahr war Samuel Zülli so weit, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. «Ich möchte anderen Menschen, die ebenfalls in eine Sekte hineingeboren wurden, damit Mut machen.» Scientology wird übrigens durch den Verfassungsschutz mehrerer deutscher Bundesländer beobachtet, weil die Tätigkeiten der Sekte nicht mit den Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar sind. In der Schweiz ist die Bewegung bei weitem nicht gleich aktiv wie in Deutschland oder Grossbritannien. Allerdings stand sie auch schon in der Schweiz unter behördlicher Kontrolle – wegen mutmasslicher Schwarzarbeit.
DCX STORY: doc7xfl95fzvbnc1n0gkrp [Stellungnahme von Scientology Schweiz]