Käuflicher Sex – das Streitgespräch
Darf das RAV eine Frau auf den Strich schicken?

Ob der Kauf von Sex verboten werden soll, darüber sind sich selbst Frauenorganisationen nicht einig. Auch nicht, ob der Job als Prostituierte einer wie andere ist.
Publiziert: 27.05.2018 um 14:39 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 22:24 Uhr
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«Es geht niemanden etwas an, wenn bei einvernehmlichem Sex Geld fliesst»: Christa Ammann.
Foto: Philippe Rossier
Interview: Aline Wüst

Für die Rechte von Frauen kämpfen beide: Christa Ammann als Leiterin der Fachstelle Xenia, die im Kanton Bern Prostituierte berät, und Andrea Gisler als Leiterin der Frauenzentrale Zürich, die sich für Gleichberechtigung einsetzt. Ihre Haltung zur Prostitution aber könnte unterschiedlicher nicht sein.

SonntagsBlick: Braucht die Schweiz Prostitution?
Christa Ammann: Prostitution ist etwas, was es gibt und immer gegeben hat. Es ist ein gesellschaftlicher Fakt und eine Erwerbsmöglichkeit für Menschen.

Andrea Gisler: Prostitution braucht es nicht, sie kommt aber vor wie Mord und Sklaverei. Und ist damit etwas, was in einer modernen, gleichberechtigten Gesellschaft keinen Platz hat.

Über Pfingsten wurde in einem grossen Aargauer Bordell für einen Blowjob-Contest geworben: «Jeder Gast hat die Möglichkeit, acht Bläserinnen gratis zu testen und seine Bewertung abzugeben.» Ist das in Ordnung?
Ammann:
Das ist ein Spiel, um Kunden anzuwerben. In Ordnung finde ich es nicht. Aber grenzwertig ist vor allem, wenn mit ungeschütztem Verkehr geworben wird.

Gisler: Ich finde das hochgradig frauenverachtend. Das kann man nicht mit Werbestrategien rechtfertigen. Es zeigt die Kommerzialisierung der Frauen.

Warum kommt die Mehrheit der Prostituierten aus dem Ausland?
Ammann:
Historisch gesehen migrierten Sexarbeiter schon immer wegen des gesellschaftlichen Stigmas. Ein weiterer Grund ist ökonomische Ungleichheit. Die Frauen gehen in Länder, wo sie Chancen auf ein Einkommen haben.

Warum gibt es kaum Schweizer Prostituierte?
Gisler: Das zeigt doch die ganze Verlogenheit. Wir holen sehr junge Frauen aus den Armutsländern Europas, die sich prostituieren. Für uns Schweizerinnen kommt das aber nicht in Frage. Wenn wir schon behaupten, Prostitution sei ein Job wie jeder andere, könnten wir unseren Töchtern auch sagen: Geh doch während des Studiums als Prostituierte arbeiten. Es ist schamlos, wie wir mit diesen jungen Migrantinnen umgehen. Mir fehlt die Empörung darüber in der Schweiz.

Ammann: Die Empörung ist am falschen Ort. Damit diese Frauen eine Perspektive haben, müssen wir legale und sichere Migrations- und Arbeitsmöglichkeiten schaffen und die Armut in den Ursprungsländern bekämpfen. Und ihnen sicher nicht eine der wenigen Optionen nehmen, die sie haben.

Frau Gisler, warum glauben Sie, dass es gut ist, den Kauf von Sex zu verbieten, wie es Schweden tut?
Gisler:
Der Grundgedanke dahinter ist, dass Prostitution ein Verstoss gegen die Menschenwürde ist. Wie auch seine Organe zu verkaufen, selbst wenn es jemand selbstbestimmt tut.

Frau Ammann, warum plädieren Sie für die Entkriminalisierung der Prostitution?
Ammann:
Weil das den Zugang zu den Rechten verbessert. Es stärkt die Frauen, wenn es ein legales Gewerbe ist und möglichst wenig Stigmatisierung und Diskriminierung gibt.

Weshalb?
Ammann:
Frauen trauen sich, ihre Rechte wahrzunehmen, wenn sie keine Angst vor Konsequenzen haben. Nur dann können sie sich wehren, wenn sich ein Freier nicht an die Abmachungen hält. Das zeigt auch ein Bericht von Amnesty International.

Sie sind anderer Meinung, Frau Gisler.
Gisler:
In Deutschland wollte man 2002 durch eine vollständige Liberalisierung mit genau diesen Argumenten die Frauen schützen. Jetzt hat man festgestellt: Die Lebens- und Arbeitsbedingungen sind dadurch unglaublich prekär geworden, das Sexgewerbe ist explodiert.

Präsidentin der Frauenzentrale

Andrea Gisler (51) ist Präsidentin der Zürcher Frauenzentrale und Rechtsanwältin mit eigener Anwaltskanzlei. Die Frauenzentrale vertritt die Anliegen von Frauen in Politik, Arbeitswelt und Gesellschaft. Der gemeinnützige Verein ist parteipolitisch unabhängig und konfessionell neutral.

Andrea Gisler (51) ist Präsidentin der Zürcher Frauenzentrale und Rechtsanwältin mit eigener Anwaltskanzlei. Die Frauenzentrale vertritt die Anliegen von Frauen in Politik, Arbeitswelt und Gesellschaft. Der gemeinnützige Verein ist parteipolitisch unabhängig und konfessionell neutral.

Das schwedische Modell als ideales Modell?
Gisler: Es gibt kein ideales Modell. In Schweden hat man in den letzten 20 Jahren festgestellt, dass es zu einem Umdenken führt, wenn der Kauf von Sex unter Strafe gestellt wird. Schon Kinder lernen, dass es nicht in Ordnung ist, zu einer Prostituierten zu gehen.

Warum, Frau Ammann, wollen Sie dieses Modell unter keinen Umständen?
Ammann: Es gäbe noch prekärere Arbeitsbedingungen, noch mehr Gewalt. Denn verbieten wir den Sexkauf, zöge dies nur noch eine gewisse Klientel an – diejenigen, die bereit sind, ein Gesetz zu brechen.

Sozialarbeiterin im Bereich Prostitution

Christa Ammann (35) ist Sozialarbeiterin und Leiterin von Xenia. Einer Fachstelle, welche Sexarbeitende im Kanton Bern berät und an ihren Arbeitsorten aufsucht. Ihr Wissen gibt sie an Etablissement-Betreibende, Behörden und Politik weiter. Der Verein hat einen Leistungsvertrag mit dem Kanton.

Christa Ammann (35) ist Sozialarbeiterin und Leiterin von Xenia. Einer Fachstelle, welche Sexarbeitende im Kanton Bern berät und an ihren Arbeitsorten aufsucht. Ihr Wissen gibt sie an Etablissement-Betreibende, Behörden und Politik weiter. Der Verein hat einen Leistungsvertrag mit dem Kanton.

Wäre es legitim, wenn das RAV jemanden ins Bordell schicken würde, um zu arbeiten?
Ammann: Weil die sexuelle Integrität höher gestellt ist als das Weisungsrecht des Arbeitgebers – nein.

Frau Gisler, geht die Prostitution bei einem Sex-Kaufverbot nicht in den Untergrund?
Gisler: Wenn die Freier die Frauen finden, dann findet sie auch die Polizei. Die sind nicht einfach im Untergrund. Oder sicher nicht mehr oder weniger als bei uns.

Ammann: Das schwedische Modell wäre, wie wenn wir dem Bäcker sagten: Du darfst Brot backen, aber nicht verkaufen. Das ist doch eine Farce. Die Freierbestrafung beraubt die Frauen ihrer Lebensgrundlage.

Gisler: Klar, das schwedische Modell nimmt diesen Frauen das Feld, um als Prostituierte zu arbeiten. Aber in Schweden gibt es viele flankierende Massnahmen zu diesem Gesetz. Es gibt Ausstiegsprogramme, die sehr wohl das Ziel haben, den Frauen andere Erwerbsmöglichkeiten zu geben.

Ammann: Aber es ist gescheitert.

Gisler: Nein, warum? Dann ist Deutschland viel mehr gescheitert.

Ammann: In Schweden bekommt Hilfe, wer aussteigen will. Denen, die weiter als Sexarbeiterinnen arbeiten möchten, bleibt das verwehrt. Es ist eine Zwangsumerziehung.

Gisler: Die Arbeitsbedingungen kann man noch so schönreden. Die Frau wird in der Prostitution zu einem Konsumgut. Da kann man, solange man will, an den Bedingungen schrauben – es wird nicht besser. Hinzu kommen die Langzeitfolgen.

Zum Beispiel?
Gisler: Prostituierte haben überdurchschnittlich oft Angststörungen und Depressionen. Ihre Lebenserwartung liegt international gesehen bei 33 Jahren. Wir können doch keine Arbeit zulassen mit solch massiven Auswirkungen.

Frau Ammann, wie erleben Sie das in Ihrem Alltag?
Ammann: Die grösste Belastung für die Sexarbeiterinnen sind die Stigmatisierung und das Doppel­leben, weil sie bei ihren Familien in den Heimatländern verheimlichen müssen, was sie hier tun.

Gesundheitliche Folgen sind durch Studien belegt.
Ammann: Es kommt bei jedem Job darauf an, welche Ressourcen man mitbringt, ob man die Arbeit aushalten kann oder nicht. Aber Sexarbeit ist sicher ein harter Job.

Gisler: Diese Ressourcen sind häufig gerade nicht da. Viele dieser Frauen haben schon in der Kindheit sexuelle Gewalt und Ausbeutung erlebt.

Ammann: Wenn man schaut, wie viele Frauen Missbrauch erlebt haben, finde ich es schwierig zu sagen, dass Sexarbeiterinnen überproportional betroffen sind.

Gisler: Doch, da gibt es einen Zusammenhang. Ausserdem können viele Frauen diese Arbeit nur unter Alkohol und Drogeneinfluss tun. Es geht nicht nur um das Problem der Stigmatisierung. Da ist mehr dahinter, sonst müssten sie sich nicht zudröhnen, um das auszuhalten.

Frau Ammann, sind Alkohol und Drogen ein Thema?
Ammann: Es gibt Sexarbeiterinnen, die suchtmittelabhängig sind. Mir ist aber keine Studie bekannt, die belegt, dass der Drogenkonsum höher ist als sonst bei armutsbetroffenen Menschen.

Frau Ammann, Ihnen ist es wichtig, zwischen Menschenhandel und Prostitution zu unterschieden. Wie viele Frauen arbeiten in der Schweiz unter Zwang?
Ammann: Wie unsere Erfahrung zeigt, ist es eine kleine Minderheit.

Gisler: Es ist schwierig zu bestimmen, wo der Zwang beginnt. Prostitution ist der Nährboden für Frauenhandel in der Prostitution.

Ammann: Dann müsste man auch sagen: Landwirtschaft ist der Nährboden für den Menschenhandel in der Landwirtschaft.

Gisler: Ich finde es schwierig, das Sexmilieu mit einem Gewerbezweig zu vergleichen. Bei der Prostitution geht es doch um einen ganz intimen Bereich eines Menschen. Es gibt viele Traumatherapeuten, die sagen: Wir sind es langsam leid, die Nachwirkungen der Prostitu­tion aufarbeiten zu müssen.

Ammann: Intimität ist etwas sehr Persönliches. Was intim ist und was nicht, muss jede Person für sich selber beantworten dürfen. Alles andere ist entmündigend.

Frau Gisler, sprechen Sie Prostituierten das Recht ab, über ihren eigenen Körper zu bestimmen?
Gisler:
Nein. Es geht um das System Prostitution. In diesem werden Frauen ausgebeutet und zu käuflichen Objekten abgewertet.

Wäre eine Welt ohne Prostitution besser?
Ammann: Nein. Es geht niemanden etwas an, wenn bei einvernehmlichem Sex zwischen zwei Personen Geld fliesst. Für mich hat Sexarbeit in einer freien und gleichberechtigten Gesellschaft Platz. Und zwar, wie schon heute ausgeübt, von Frauen und Männern.

Gisler: Es ist utopisch. Aber ja, sie wäre besser. Und ich frage mich wirklich, warum die Prostitution heute, wo wir viele sexuelle Freiheiten haben, noch immer so einen wichtigen Stellenwert hat. Aber Prostitution ist eben der Ort, wo Macht und Dominanz über Frauen ausgelebt werden, die zum patriarchalen Weltbild gehören.

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