Das Haus von Familie S.* steht im Osten Frauenfelds. Die Wand der Stube schmückt ein gerahmtes Hochzeitsbild, Fotos mit Kindern und Enkelkindern reihen sich im Regal. Eine gutbürgerliche Idylle im Wohnquartier. Doch Ende März werden Richter in Reggio Calabria über den Familienvater Luigi S. (63) urteilen.
Ihm wird die Mitgliedschaft bei der Frauenfelder 'Ndrangheta-Zelle vorgeworfen. Laut seinem Anwalt Stefan La Ragione (56) drohen S. zehn Jahre Haft. Bei einer rechtskräftigen Verurteilung kann Italien den Vollzug in der Schweiz verlangen. Denn S. ist seit 2005 Schweizer Bürger, 2014 hat er seinen italienischen Pass abgegeben. Er kann deshalb zwar nicht ausgeliefert werden, aber auch hierzulande ist die Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation strafbar.
S. kam in den 70er-Jahren als Gastarbeiter, arbeitete lange als Gabelstapelfahrer bei der Firma Rieter. Vor 35 Jahren heiratete er die Schweizerin Franziska (58) und zog mit ihr zwei Kinder gross. So weit, so unspektakulär. Fest steht aber auch, dass S. in zwielichtiger Gesellschaft verkehrte.
Die Polizei stellte das ganze Haus auf den Kopf
Am 27. August 2014 veröffentlichte die italienische Polizei jenes mittlerweile weltberühmte Video aus dem Hinterzimmer des Landgasthofs Schäfli in Wängi TG. Es zeigt eine Gruppe Männer, die nach dem Aufsagen der Mafia-typischen Begrüssungsformeln über Drogenhandel und Erpressung spricht. Franziska S. erzählt: «Unsere Tochter kam zu uns und spielte uns ein Video vor.» Zum Vater habe sie gesagt: «Papa, das bist doch du!» Erst am nächsten Morgen kam die Polizei und stellte das ganze Haus auf den Kopf.
In die Mafia-Zelle, so S., sei er über einen Klub geraten, der sich in Frauenfeld in einer Baracke getroffen habe. Mitgliederbeitrag: 20 Franken im Jahr. Dort hätten Italiener aus der Region Briscola gespielt, das italienische Pendant zum Schweizer Jass. Später sei er in den Boccia-Club nach Wängi eingeladen worden. Irgendwann wurden die Begegnungen – am letzten Sonntag im Monat – zur Pflicht: «Die Chefs der Gruppe wollten immer genau wissen, wo wir waren, wenn wir uns für ein Treffen entschuldigt haben.»
Also alles nur ein Missverständnis?
«Ich bin stolz, hier bei euch zu sitzen»
Luigi S. ist kein gebürtiger Kalabrese, er wurde 1953 in einem kleinen Nest südöstlich von Neapel geboren. Aus Abhörprotokollen, die SonntagsBlick vorliegen, geht hervor: Am 30. Januar 2011 beteiligte sich S. an einem Gespräch mit dem inzwischen in Haft sitzenden Verbindungsmann Antonio Nesci (67). Der sagt: «Die Jungen, wie Luigi, was wollen die? Ich sage: Ich möchte arbeiten – und es gibt viel Arbeit: Erpressung, Coca, Heroin.» Dann sprechen andere, schliesslich antwortet Luigi S.: «Ich möchte danken für alles, was bisher gesagt wurde. Ich bin stolz, hier bei euch zu sitzen.»
Später sagt S. noch: «Ich habe immer meine Pflicht getan und werde mich weiterhin aufrichtig verhalten, das schwöre ich.» Welches diese Pflichten gewesen sind, möchte S. nicht verraten. Gegenüber SonntagsBlick betont er, nichts Strafbares getan zu haben: «Ich bin unschuldig.» Gemäss den Protokollen gehörte er zum untersten Rang, den ein Mafioso bekleiden kann, als sogenannter «picciotto», Lehrling. S. will nicht alles verstanden haben, was da im kalabresischen Dialekt besprochen worden sei. Nur eines: «In den drei letzten Jahren, bevor die Gruppe aufflog, wurde oft gestritten. Dabei ging es auch um die Zelle im nahen Singen (D).» Laut Anwalt La Ragione liege gegen seinen Mandanten in der Schweiz nichts Strafbares vor. Beim Prozess in Italien werde er auf unschuldig plädieren.
S. ist heute wütend auf seine Kollegen vom Boccia-Club in Wängi – er hat keinen Kontakt mehr zu ihnen. Und er fühlt sich auch nicht an die Omertà gebunden, das Schweigegebot der 'Ndrangheta: «Müsste ich für meine Teilnahme an den Treffen ins Gefängnis, wäre das schon sehr hart.»
*Name der Redaktion bekannt