Jérôme Endrass über Sextäter, Therapien und Rückfallgefahr
«Die tun einfach, worauf sie Lust haben»

Im Interview erklärt Jérôme Endrass, Stv. Leiter Psychiatrischer Dienst beim Amt für Justizvollzug Zürich, wie man Sexualstraftäter therapiert und wann Therapien schief gehen.
Publiziert: 10.03.2016 um 21:50 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 07:20 Uhr
Lea Gnos

BLICK: Herr Endrass, wie werden Sexualstraftäter therapiert?

Jérôme Endrass: Zuerst versuchen wir, die sogenannten Risiko­faktoren zu identifizieren. Dann wird abgeklärt, ob es möglich ist, diese innerhalb nützlicher Frist zu beseitigen. Das ist für eine Therapie matchentscheidend. Als Risikofaktoren gelten zum Beispiel folgende Kriterien: kein Unrechtsbewusstsein, wenig Mitgefühl, Hypersexualität, Rücksichtslosigkeit oder Sadismus.

Wie therapiert man Täter, die kein Unrechtsbewusstsein haben?

Man muss sie aus ihrer gewohnten Welt herausholen. Einzelne Täter entwickeln über Jahre hinweg Ausreden. Es dauert oft lange, bis sie sich eine solche Welt zurechtgezimmert haben. Diese Rechtfertigungen sind sehr tief verankert. Denn: In Chats finden sie Gleichgesinnte. Es ist ähnlich wie bei Extremisten, die einer Ideologie verfallen sind. Die Therapeuten nehmen diesen Tätern die Ausreden. Sie sagen ihnen, dass sie falschliegen.

Kann man Mitgefühl lernen?

Ja, das ist möglich. Täter mit einem Empathie-Defizit lernen auch durch das Zusammenleben mit anderen Häftlingen. Von denen bekommen sie sehr rasch Rückmeldungen, wenn sie sich rücksichtslos verhalten. Auch hier ist das Zusammenspiel aus Therapie und Erfahrungen mit anderen zentral.

Wie therapiert man Hypersexualität und Sadismus?

Hypersexualität und Sadismus kommen seltener vor. Es ist schwierig, diese beiden Risikofaktoren zu therapieren. Hypersexualität therapiert man zusätzlich mit Medikamenten.

Gibt es auch Täter, die einfach nur rücksichtslos sind?

Es gibt auch Täter, die generell dissozial sind. Das bedeutet, dass sie sich nie an Regeln und Normen halten. Diese Menschen tun einfach das, worauf sie Lust haben. Das Wohlergehen anderer ist ihnen ziemlich egal. Wenn sie Lust haben, mit einer 12- oder 13-Jährigen zusammen zu sein, dann tun sie das auch.

Wann gehen Therapien schief?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten für das Scheitern. Es kann sein, dass ein Straftäter nicht motivierbar ist oder nur scheinbar mitmacht. Dann macht eine Therapie wenig Sinn. Es gibt auch Fehler von Therapeutenseite, etwa wenn die falschen Risikofaktoren behandelt worden sind. Wenn bei jemandem beispielsweise das mangelnde Unrechtsbewusstsein therapiert wird, obwohl mangelnde Empathie das Problem ist. Es gibt aber mittlerweile einige Methoden, um das Risiko eines Therapiefehlers zu minimieren.

Wie oft gibt es Täter, die mit Sexualität Macht ausüben wollen?

Dominanz ist ein wichtiges Thema in der Therapie. Männer, die mit Sexualität Macht auf andere ausüben wollen, kommen oft vor. Ohne dass dazu präzise Zahlen vorliegen, würde ich den Anteil auf circa 20 Prozent  der Täter schätzen. Es sind Leute, die ein starkes Bedürfnis haben, alles zu kontrollieren. Sie wollen nichts dem Zufall überlassen. Wenn Dominanz ein Problem ist sowie dazu noch die Intelligenz gering, ist eine Therapie schwierig.

Wie hoch ist die Rückfallgefahr bei Tätern, die als therapierbar gelten?

Die Rückfallquote ist gegenüber anderen Straftätergruppen eher gering. Sie fürchten die Repression und Strafe, falls sie wieder rückfällig werden, und haben so ein grosses Interesse an Rückfallfreiheit. Generell kann man sagen, je älter die Täter sind, desto geringer ist die Rückfall-gefahr. Inzesttäter haben eine geringere Rückfallquote, da es beim Inzest auch um eine Machtposition innerhalb der Familie geht. Ist der Täter wieder frei, gibt es die Familie oft nicht mehr. Die Gefahr besteht aber, wenn der Täter eine neue Familie gründet.

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