Beklemmende Anspannung im Wohnzimmer der Familie H.*: Die Tochter (18) rückt nervös auf dem Stuhl hin und her. Jahrelang sorgte ihr Schicksal als «Fall Lisa» für Schlagzeilen. Der Abwart des Hauses, in dem sie wohnt, hatte das Mädchen brutal missbraucht. «Ich will das nicht mehr verheimlichen, mag mich nicht mehr verstecken», sagt die zierliche Teenagerin bestimmt und ergänzt: «Ich heisse nicht Lisa. Ich heisse Franziska!»
Der Vater Ernst H. (64) sitzt neben ihr, hält schützend den Arm um sie. «Ich war anfangs skeptisch, dass sie offen über die grausamen Erlebnisse sprechen will», sagt er. Doch er habe schnell gespürt, dass seine Tochter nicht mehr schweigen mag. «Es war ihr inniger Wunsch, auf diesem Weg andere Mädchen zu sensibilisieren. Das respektiere ich.» Auch eine Anwältin ist im Raum. Sie hat auf Franziskas Wunsch den Kontakt zu SonntagsBlick hergestellt.
Jetzt ergreift Franziska das Wort. «Ich will anderen Mädchen Mut machen», sagt die junge Frau. «Sie sollen sehen, dass man sich nicht schämen muss. Deshalb erzähle ich Ihnen meine Geschichte.»
Sie fasste ihren Entschluss vor drei Wochen. Im Fernsehen sah sie eine Sendung über Opfer von sexuellem Missbrauch. Erfuhr, dass sich viele umbringen. «Das hat mich tief getroffen.»
Franziskas Leidensgeschichte beginnt 2009. Hauswart Urs K.* (66) wohnt nur zwei Stockwerke über der Wohnung von Familie H. in Goldau SZ. Er ist ein Freund der Familie, der gerne zum Grillieren oder auf ein Bier vorbeikommt. Franziska hilft ihm bei Arbeiten am Haus oder im Garten. «Ich habe ihm vertraut.»
Urs K. nutzt das kaltblütig aus. Fast zwei Jahre lang missbraucht er das Mädchen, laut Franziska Hunderte Male. Im Keller, seinem Ehebett, im Wald. Vater Ernst: «Er rief manchmal mehrmals pro Woche an und fragte, ob sie ihm aushelfen könne. Weil er ein guter Bekannter war, wäre ich nie darauf gekommen, was er tatsächlich trieb.»
Beim ersten Übergriff war Franziska zwölf Jahre alt, hatte wegen ihrer geistigen Behinderung das Urteilsvermögen einer Sechsjährigen. Auch heute wirkt sie mit der farbigen Zahnspange und dem frechen Blick kindlich. «Vielleicht hat er mich deshalb ausgewählt, weil ich ein Handicap habe. Er dachte, bei mir kommt er damit durch.»
Doch da hat sich K. geirrt: Franziska ist stark. Sie kam als Frühchen zur Welt, wog nur 440 Gramm. «Ich musste von der ersten Sekunde meines Lebens kämpfen», sagt sie. Diese Mentalität habe ihr geholfen, die schlimmen Übergriffe zu verarbeiten.
«Ich verstand nicht, dass das falsch ist»
Franziska schliesst die Augen, um sich zu konzentrieren. Sie will kein Detail auslassen. Alle sollen genau wissen, wie grausam ihr Peiniger vorging. «Einmal fesselte er mich mit Kabeln an Händen und Füssen und machte mich am Bett fest, um mit mir Sex zu haben», sagt sie. «Ein anderes Mal hielt er mir ein Messer an die Schläfe und drang gleichzeitig in mich ein. Oder er würgte mich, bis ich bewusstlos war. Als ich zu mir kam, lag er nackt neben mir und hat es wieder getan.»
Die Angst und die Schmerzen müssen unvorstellbar gewesen sein. Doch der Teenager wirkt gefasst, erzählt ruhig und mit klarer Stimme weiter. Damals habe sie nicht verstanden, dass das Verhalten des Hauswarts falsch war. «Meine Eltern haben mich gewarnt, dass es solch böse Menschen gibt. Aber er war doch unser Freund.»
Peiniger darf über Franziska wohnen
Erst im Aufklärungsunterricht in der Schule versteht Franziska, dass Urs K. ein Verbrecher ist. Und dass sie das umgehend melden muss. Sie reagiert schnell, vertraut sich ihrer Lehrerin an. Diese schaltet sofort die Behörden ein.
Im März 2011 kommt K. in Untersuchungshaft. Er gesteht einige der Taten. Doch nach nur einem Monat wird er entlassen (SonntagsBlick berichtete). «Er zog zurück in die Wohnung in unserem Haus. Ich hatte unglaubliche Angst, dass er mir wieder etwas antut», sagt Franziska.
Sie verschanzt sich in der Wohnung, um ihrem Peiniger nicht zu begegnen. Sieht fern, spielt allein Gesellschaftsspiele. «Meine Katze Felix war mein bester Freund. Draussen mit Kollegen abmachen wollte ich nicht mehr. Und jedes Mal, wenn ich zur Schule ging, fühlte ich mich von ihm verfolgt.»
Auch für die Eltern ist diese Zeit ein Martyrium: «Zu sehen, wie er hier ein und aus geht – nach allem, was er unserer Tochter angetan hat, das war unerträglich», sagt Vater Ernst.
Natürlich war er wütend. Aber er schaffte es, ruhig zu bleiben. «Ich konzentrierte mich darauf, für Franziska und meine Frau da zu sein, die auch schwer leiden musste.»
Im Herbst 2013 wird Urs K. zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt – wegen mehrfacher sexueller Handlungen mit Kindern, mehrfacher Schändung und Pornografie. Doch der Hauswart zieht Teile des Entscheids bis vor Bundesgericht. Und darf bis im Dezember 2014 in der Wohnung über seinem Opfer leben. Erst dann wird das Urteil rechtskräftig, der Täter mit einem Kontakt- und Rayonverbot belegt.
Ausbildung und Musik als Verarbeitungshilfe
Erstmals lacht Franziska jetzt, ihre Zahnspange blitzt. «Das war eine unglaubliche Erleichterung», sagt sie. «Zum ersten Mal seit Jahren habe ich mich frei gefühlt. Ich konnte mich wieder frei bewegen. Das hat mir viel Kraft gegeben.» Sie machte eine Therapie. Heute habe sie keine Angst mehr vor ihm. «Ich bin stärker als er.»
Das Mädchen trifft sich wieder mit Freunden, geht ab und zu in den Ausgang. Sie habe einen Verehrer, der ihr SMS schreibe, «aber Buben interessieren mich im Moment nicht». Stattdessen konzentriert sie sich auf ihre Ausbildung zur Monteurin. «Noch lieber würde ich mit Pflanzen arbeiten, Gärtnerin werden. Es fällt mir manchmal schwer, Menschen zu vertrauen. Mit Blumen habe ich solche Probleme nicht.»
Der Name von Urs K. steht noch immer am Briefkasten, seine Frau wohnt weiterhin im gleichen Haus wie Franziska. Sie versuche, möglichst wenig an den Mann zu denken, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hat. «Nur, wenn ich an einem Ort vorbeigehe, wo er mir etwas gemacht hat, ist alles wieder da. Dann setze ich meine Kopfhörer auf und höre laut Musik. Das hilft, mich abzulenken.»
«Es gibt keinen Grund, sich zu schämen»
Die junge Frau hat einen grossen Wunsch: «Dass auch andere Mädchen ihren Mut zusammennehmen und offen darüber sprechen, was ihnen passiert ist. Damit die Täter nicht davonkommen. Und weil sich die Opfer doch nicht verstecken müssen.» Und davor, dass sie ab jetzt auf der Strasse erkannt werden könnte, habe sie keine Angst.
Im Gegenteil: «Ich hoffe, ich bin ein Vorbild für andere Frauen, die so etwas erleben mussten.»
Über ihren Peiniger sagt sie: «Er hat meine Kindheit zerstört. Die Zukunft lasse ich mir nicht auch noch nehmen.» Nur eine Frage plagt sie: «Ich würde ihm gerne noch einmal gegenüberstehen. Um ihn direkt zu fragen, weshalb er mir das angetan hat.»