Jacques Dubochet wartete schon lange auf seinen Nobelpreis
Der Professor der Nation

Bis letzten Mittwoch kannte kaum einer ­ Jacques Dubochet. Jetzt ist er ein Star. Wir haben den Chemie-Nobelpreisträger in Lausanne auf einen Spaziergang getroffen.
Publiziert: 08.10.2017 um 00:12 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 11:25 Uhr
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Der Superstar vom Genfersee zieht alle Blicke und Handykameras auf sich. Und ist trotzdem schampar gut gelaunt. Le Prof sympa eben.
Foto: JEAN-GUY PYTHON

Er rufe noch kurz seine Frau an. «Christine, ich komme gegen 18 Uhr nach Hause», spricht der 75-Jährige auf die Mailbox seiner Liebsten. Der Nobelpreisträger steckt in einer schwarzen Kordhose, darüber flattert ein langes bordeauxrotes Hemd, er trägt Sandalen – und Socken. Das weisse Haar und der weisse Bart umsäumen das freundliche Gesicht mit den blauen Augen. Der Kugelschreiber klemmt in der Brusttasche. Le prof sympa.

«So, jetzt», sagt Jacques Dubochet und streckt seine Hand aus. «Félicitations, Monsieur Dubochet. Wie lange haben wir?» «Oh, ich habe Zeit!», antwortet er. Jacques ­Dubochet hat am Mittwoch den Nobelpreis in der Kategorie Chemie gewonnen – als erster Schweizer seit 15 Jahren. Seither steht das Land Schlange. Und er kopf.

Wir gehen auf einen Spaziergang. Er wechselt im Gespräch zwischen Forschung, Telefonanruf aus Stockholm und Kindheit wie zwischen den Sprachen Deutsch, Französisch und Englisch. Doch zur Ursprungsfrage findet er immer wieder zurück. Einfach erst ein paar Gedanken später. Wir ver­suchen, ihm zu folgen.
Dubochet führt uns in einen Hörsaal, in dem er zehn Jahre unterrichtete. Bei den Studenten, die hinter Laptops sitzen, entschuldigt er sich überschwänglich: «Wir schiessen nur ein paar Fotos und sind wieder weg.» Wie selbstverständlich lässt er den Wasserhahn laufen, hält seine Hand darunter und spielt mit dem Wasserstrahl. «Wasser ist mein Thema. Water is beautiful.» Er sagt sogar scherzhaft: «Ich wurde ausgezeichnet, weil ich gefrorenes Wasser erfunden habe.»

Der coole und bescheidene Wissenschaftler

Dass Dubochet kein staubtrockener Wissenschaftler ist, erkennt man bereits an seinem Lebenslauf auf der Universitäts-Webseite, wo etwa steht: «1941: Gezeugt worden von optimistischen Eltern, 1946: Fürchtet sich nicht länger vor der Dunkelheit, weil die Sonne immer zurückkommt, 1968: sehr wichtig». In der kurzfristigen Pressekonferenz nach der Verkündung wirkt Monsieur Dubochet vor allem eines: bescheiden. Er lobt die anderen. Über sich sagt er: «Ich habe auch einen Blog, aber es ist ein sehr schlechter Blog.»

Studenten der Unil (Universität Lausanne) laufen nur noch vereinzelt durch die Gänge. Es ist 17 Uhr. Auf einem schmalen Tisch stehen leere Weinflaschen. Der Rest vom Fest. 300 Leute sind am Mittwoch im Foyer gestanden: Familie, Freunde, Kollegen. Sie alle haben ­Dubochet empfangen, beklatscht, geküsst. Ein kleiner spontaner ­Apéro. Nur ein Stündchen. Dann musste der Nobelpreisträger auch schon in den Gemeinderat seines Wohnorts Morges radeln. Aber dazu später.

Draussen vor dem Campus zeigt Dubochet auf ein grosses Herrenfahrrad. «Das ist mein Velo!» Er grinst. Wie eine Banane, wird der Fotograf später sagen. Die Mundwinkel so weit oben, die Krümmung. Ein giftgrüner Helm baumelt am Lenker. Einen ganz schönen Weg gebe es entlang des Wassers. «Ist das nicht ein Campus ­magnifique?», fragt er. «Oui.»

Die Bande in seinem Büro liess Stockholm warten

Und dann erzählt Dubochet von Heidelberg. Dort, wo er in den 80er-Jahren die Entdeckung machte, für die er nun den Nobelpreis erhält. Das European Molecular Biology Laboratory in Heidelberg gehört zu den bekanntesten biologischen Forschungslabors der Welt. Acht Jahre hatte er dort geforscht. Dubochet war damals schon überzeugt: Diese Entdeckung ist wichtig. «Ich wusste es. Aber niemand sonst glaubte es.»

«Geht mein Deutsch?», fragt der Professor. Geht es noch unpräten­tiöser?, denken wir und sagen: «Es ist perfekt, Monsieur.» Fast am See angelangt, zeigt Dubochet auf einen grossen Gipfel. «Sehen Sie diesen schneebedeckten Berg? Das ist der Mont Blanc. Von meinem Arbeitszimmer zu Hause in Morges blicke ich direkt auf ihn.» Seine Augen funkeln. Wie immer, wenn er die Worte «Berge» und «Natur» ausspricht.

Zweimal die Woche kommt er noch an die Uni. Etwa für die Vorlesung «Biologie und Gesellschaft». Dabei geht es um Ethik. Dubochet ist Philosoph, Naturwissenschaftler und Sozialist. So wie er am Tag nach dem Preis seines ­Lebens wie gewöhnlich seine Vorlesung hält, fährt er auch am selben Abend nach dem Apéro an der Uni in den Gemeinderat. Warum? Später. Er spricht nun vom Anruf, der sein Leben verändert hat.

«Das war witzig», beginnt Dubochet lachend. Wobei der Professor eigentlich die ganze Zeit lacht. Stockholm – er nennt die Stadt, wenn er das Nobelkomitee meint oder alles, was mit dem Preis in Verbindung steht – hat erst im Büro angerufen. Dubochet teilt es mit mehreren Doktoranden. «Eine nette Bande.» Die Bande lässt es erst mal klingeln. Der Prof ist ja nicht da. Als es nicht mehr aufhört, geht einer ran. ­Dubochet bleibt unter einem Baum stehen: «Können Sie sich das vorstellen, die wussten etwa 40 Minuten vor mir, dass ich den Preis gewonnen habe?» Dann erst ruft Stockholm bei ihm zu Hause an. Und was hat Stockholm gesagt?

«Félicitations!», sagt ein Herr und gibt ihm die Hand. Dieses Wort wird noch oft fallen. Dubochet ist plötzlich berühmt.

Den Namen der Frau aus Stockholm hat er vergessen. Sie sagte «I have an important communication for you …» Den Rest weiss er nicht mehr. Entfallen. «The communication was bad», erklärt ­Dubochet plötzlich auf Englisch. Er legte auf und atmete das erste Mal. «Uff, Christine!», rief er seine Frau, «das war Stockholm.» Sie umarmten sich. Am Seeufer beugt er sich vornüber und lässt den Oberkörper baumeln. Der Prof sympa spielt die Szene nach.
Es ist ihm unangenehm, aber das erste Wort, das ihm einfällt auf die Frage, wie er sich fühlte, ist: Relief. Erleichterung. «Das ist doch merkwürdig? Ja, fast frech», sagt der frischgebackene Nobelpreisträger an diesem frühen Abend am Genfersee unweit des Unicampus. Als ob er es langsam satt gehabt habe, auf den Nobelpreis zu warten.

Doch er hoffte eben schon ein bisschen darauf. Seit fünf Jahren diskutiert er mit Kollegen darüber, ob und wann es endlich reicht. «Ich wusste, es ist interessant. Ich wusste, es ist wichtig. Aber jeder Wissenschaftler möchte, dass seine Forschung gross wird.» Das Abendlicht auf dem Lac Léman glitzert wie der Stolz in Dubochets Augen.

Papa der Kryo-Elektronenmikroskopie nennen ihn Kollegen. Seine Mikroskopietechnik wendeten in den 80er-Jahren gerade einmal eine Handvoll Forscher an. Plötzlich wird seine Forschung wichtig. Ist in aller Munde. Damit konnte zum Beispiel die Struktur des Zykavirus sehr schnell bestimmt werden. «Die Methode revolutionierte die Biochemie», begründet das Komitee.

Er habe schon ein wenig «Bauchkitzlerei»

Vielleicht, sagt Dubochet, sollte er das nicht sagen. Aber: Nach dem Anruf wusste er, was zu tun war. Den Generalsekretär der Uni erreichte er nicht. Doch eine Dame von der Kommunikation. Seither organisiert sie alles für den nun berühmten Professor.

Wie ist dieser Rummel plötzlich? Nervt es? Vor wenigen Tagen kannte ihn niemand. Oh nein, um den Campus herum habe man ihn immer freundlich gegrüsst. Aber jetzt, wo er auf allen Zeitungen lächelt? Er habe schon ein wenig «Bauchkitzlerei». Er sagt sich immer wieder: «Atme tief! Wenn ich jetzt spreche, bin ich wichtig. Aber ich habe nicht mehr zu sagen als vorher.»«Wissen Sie», Dubochet bleibt erneut stehen und zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, «ich glaube, ich habe etwas zu sagen.» Aber er müsse aufpassen, den Nobelpreis nicht zu benutzen, um sich wichtig zu machen. Wie bitte? Dieser selbstlose, bescheidene Mann? «Doch, ich spreche viel von mir selber», protestiert der Prof. Das werde schwierig werden. Aber er wisse ja genau, in einem Jahr wird das alles niemanden mehr interessieren.«Félicitations!», ruft ein Velofahrer, ohne anzuhalten und unterbricht die Selbstreflexion. «Das ist doch lustig», sagt Dubochet amüsiert und wird dann wieder tiefsinnig. Ein Leben lang hat er daran gearbeitet, die Welt zu verstehen. «Ich bin ein alter Intellektueller. Und ich bin stolz, intellektuell zu sein.» Und schon ist Dubochet bei der Philosophie und beim Sinn des Lebens. Es sei falsch, dass die Menschen immer fragen, was der Sinn des Lebens sei. Es gebe nichts oben, nichts Höheres. Okay, ein Leichtes für einen Atheisten. Dubochets Sinn? Er will verstehen. Das steht für ihn als Wissenschaftler an erster Stelle. Verstehen lernt man aus der Natur. Er fuchtelt mit den Händen und sagt plötzlich: «Ich möchte fröhlich sein und grosszügig. Wissen Sie, es ist nicht kompliziert, grosszügig zu sein.»

Dubochet wird stets gefragt, was er mit dem Preisgeld (über eine Million Franken für alle drei) machen wird. Das verrät Dubochet nicht. Sicher wird er das Geld nicht in Aktien für Atomkraftwerke anlegen. Dubochet ist ein Alt-68er, Mitglied der SP und sitzt im Gemeinderat von Morges.

Von Rockzipfel-Kind zum politischen Wissenschaftler

Und endlich erzählt er auch, warum er seinen eigenen Apéro so schnell verlassen hat und in den Gemeinderat gerauscht ist. «Es war etwas Wichtiges. Es ging um mein Thema Klima. Da musste ich dabei sein. Ich musste etwas vortragen.» In drei Minuten sollte er dem Parlament auch noch vortragen, weshalb er den Preis bekommen hat. Alle klatschen. Es ist spät. Dubochet radelt heim. Zu Hause nimmt er eine Schlaftablette.

Er hat die einzelnen Atome im Blick, aber auch die Schwächeren in unserer Gesellschaft. Seit zwei Jahren wohnt ein 21-jähriges Flüchtlingsmädchen bei ihm und seiner Frau. Dubochet lernte sie in der Schule kennen, in der er 40 unbegleitete Flüchtlingskinder unterrichtet. Worin bitte? «Mathe.» Wie kann einer, der einen Chemie-Nobelpreis gewinnt, Basis-Mathematik unterrichten? «Das geht, ich zeige ihnen, was 1 + 2 gibt», sagt Dubochet.

Vermutlich hilft er den Schwächeren, weil seine eigene Kindheit kompliziert war. Von seiner Legasthenie weiss mittlerweile die ganze Schweiz. Die Zeile «Vom schlechten Schüler zum Nobelpreisträger» ist auch zu gut. Das weiss Dubochet selber. Seine Familie war gutbürgerlich, rechts-liberal. Sein Vater baute Staudämme in einem Dorf im Wallis. Später zog die Familie nach Sitten.
Klein Dubochet war nicht integriert. «Wie heisst das? Ich war immer unter Mamas Schürze», sagt Dubochet. Ein Rockzipfel-Kind. «Ich hatte keine Freunde. Ich war ein armer Mensch.» Wachgerüttelt hat ihn die Armee. Er wurde ein «kleiner Offizier», lernte viel über die Menschen. Ein engagierter Kommunist im Militär zeigte ihm Marx. Heute sagt er: «Ich bin kein Marxist, aber ganz à gauche.» Der Staat sei unser Mittel, um grosszügig zu sein. Dubochet ist wohl fast alleine, wenn er sich im Februar über die Steuererklärung freut. «Danke den Steuern, danke!», ruft er nun laut.

Hoffentlich ist Christine nicht sauer. Wir verquatschen uns. Seine Frau hat er während seines Doktorats in Basel an einer Party kennengelernt. Sie ist Künstlerin. «Schönheit ist für mich in der Natur. Die Malerei verstehe ich nicht. Dazu bin ich nicht fähig. Aber ich lerne es durch sie. Und meine Frau versteht nichts von meinem Thema, gibt sich aber grosse Mühe.» Die speziellste Gratulation bisher? Bundesrat Johann Schneider-Ammann rief an. Oha! «Bon», Dubochet zuckt mit den Schultern. «Das ist mir alles zu viel.» Er fragt sich auch, was die vielen Leute mit seinem Foto auf ihren Handys wollen. Der Professor freut sich über kleine Gesten von unbekannten Gratulanten: Etwa wie die Frau, die auf ihn zugekommen ist und ihm eine Schachtel Schokolade in die Hand gedrückt hat. «Ich kenne sie nicht und werde sie wahrscheinlich nie wieder sehen. Aber das hat mich sehr gefreut.»

«Am Ende muss ein Kerl auf die Bühne»

Im Dezember wird er in Stockholm den Preis entgegennehmen. «Ich werde zittern, aber das wird schon gehen», sagt Dubochet mehr zu sich selbst. «Ich spreche gerne.» Nun geht er mit seiner Frau und den zwei Kindern erst einmal ein paar Tage wandern in den Bündner Nationalpark.

«Monsieur Dubochet, Sie sind schon viel zu spät. Ihre Frau wartet.» – «Nein, nein, sie weiss, wie ich bin.» Der Biophysiker lobt in jeder Rede die anderen. Eigentlich, so der Preisträger, müsste sein verstorbener Ingenieur die Auszeichnung erhalten. «Es bekommt immer der Chef den Preis», sagt Dubochet. «Das ist zwar ein Problem, aber so ist es eben. Am Ende muss ein Kerl auf die Bühne.»

Zurück auf dem Campus geht er zu seinem Fahrrad. Er zieht sein Hemd aus. Der Nobelpreisträger steht an diesem Herbstabend mit nacktem Oberkörper vor dem Fahrradständer, zerknüllt sein Hemd, mit dem er heute den ganzen Tag für TV-Sender und Fotografen posierte, und klemmt es auf den Gepäckträger. Er streift sein «Velo-Hemd» über, darauf steht in Grossbuchstaben «BIEN». Ein Netzwerk für das Grundeinkommen in der Schweiz. Der politische Wissenschaftler setzt den knallgrünen Helm auf, steigt auf sein Velo und braust zu Christine.

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