BLICK: Was sind die Probleme mit der heutigen Invaliden-Versicherung?
Noëlle Cerletti: Die Art und Weise wie Gutachten vergeben werden. Versicherte Personen haben kein Mitbestimmungsrecht bei der Wahl der Gutachter. Dagegen wird dem Wort der behandelnden Ärzte faktisch kein Gewicht zugemessen. Allgemein wird IV-Bezügern ein grundlegendes Misstrauen entgegengebracht.
Gibt es Ärzte, die systematisch für die IV arbeiten?
Ja, klar. Jeder, der in diesem Gebiet tätig ist, kann Namen nennen. Es gibt gewisse Ärzte und Institute, bei denen wir als Rechtsanwälte von vornherein sicher sein können, dass keine oder nur eine sehr kleine Arbeitsunfähigkeit attestiert wird.
Ist den Richtern dieses Problem nicht bekannt?
Die finanzielle Abhängigkeit zwischen Gutachtern und IV-Stellen wird von uns Anwälten immer wieder vorgebracht. Doch das Bundesgericht vertritt die Meinung, dass weder die Anzahl vergebener Aufträge an einen Gutachter noch das Honorarvolumen einen Grund darstellen, den betreffenden Arzt abzulehnen oder dessen Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen.
Was braucht es, damit das System fairer wird?
Gutachter, die mit IV-Aufträgen reich werden, dürfen nicht mehr länger als unabhängig betrachtet werden. Es ist eines Rechtsstaates wie der Schweiz unwürdig, dass solche Zustände geschützt werden. Zudem darf der Lohn eines Gutachters nicht davon abhängen, welche Ergebnisse er liefert. Für mich ist klar, dass die Untersuchung durch einen Gutachter von einer Kamera aufgezeichnet werden muss.