Geschichten wie diese erschüttern unter dem Hashtag #MeTooInceste ganz Frankreich: «Ich war 9 Jahre alt. Ich werde dieses Gefühl von Scham, Schuld und Verletzlichkeit nie vergessen. Er war mein Onkel, er hat mich vergewaltigt.»
Tausende teilen seit Anfang Januar ihre Erfahrungen auf Twitter und Instagram – ermutigt durch das Buch der französischen Anwältin Camille Kouchner. In «La familia grande» schildert sie den sexuellen Missbrauch in ihrer Pariser Intellektuellenfamilie.
Duhamel verging sich zwei Jahre lang an Bub
Ihr Vater ist Bernard Kouchner, Gründer von Médecins Sans Frontières, früher war er der Aussenminister des Landes. Camilles Mutter Évelyne Pisier ist Politikprofessorin. Und deren zweiter Mann, der Stiefvater der Autorin, heisst Olivier Duhamel. Er ist Verfassungsexperte und war bis vor kurzem Vorsitzender von «Le Siècle», einem hochexklusiven Networking-Klub, Präsident der Eliteuniversitäts-Stiftung Sciences Po und Dauergast in den TV-Studios.
Ende der Achtzigerjahre: In der Ferienvilla im südfranzösischen Sanary-sur-Mer empfängt die Familie Professoren, Politiker und Künstler. Es herrschen die Ideen der 68er, das «Verbot zu verbieten». Kinder und Erwachsene liegen nackt um den Pool, küssen einander auf den Mund. In diesem Ambiente vergeht sich Olivier Duhamel zwei Jahre lang an ihrem Zwillingsbruder, schreibt Camille Kouchner. Er war zwölf Jahre alt, als alles begann. Kouchner wirft den Freunden Duhamels vor, davon gewusst zu haben.
Opfer hat nun Strafanzeige erstattet
Das Opfer selbst will nicht öffentlich über den Missbrauch sprechen. Doch letzten Dienstag hat er Anzeige gegen seinen Stiefvater erstattet. Dies nachdem die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung eingeleitet hatte, um «zu prüfen, ob die Vorwürfe tatsächlich verjährt sind, Licht in die Affäre zu bringen und mögliche weitere Opfer zu identifizieren».
Gleichzeitig wurden diese Woche weitere Inzestfälle publik, in die französische Persönlichkeiten verwickelt sind. Die Vorwürfe richten sich unter anderem gegen den TV-Produzenten Gérard Louvin sowie seinen Ehemann Daniel Moyne, aber auch gegen den Regionalpolitiker des rechtsradikalen Rassemblement National, Robert Retout.
Einer von zehn Franzosen wurde missbraucht
Der Fall Duhamel löste in Frankreich eine Schockwelle aus. Selbst Präsident Emmanuel Macron ergriff das Wort und versprach nun, verschärfte Massnahmen zur Bekämpfung sexueller Gewalt in der Familie zu ergreifen. Denn die Zahlen sind erschreckend: Einer von zehn Franzosen gibt an, in seiner Kindheit von einem Verwandten sexuell missbraucht worden zu sein.
In der Schweiz gibt es zu diesem Thema keine aktuelle Studie, das Westschweizer Fernsehen nannte kürzlich die Zahl von 350 Kindern, die jedes Jahr Opfer von Inzest werden. Doch Experten sind überzeugt: Das ist nur die Spitze des Eisbergs.