Die italienische Nachbarin stellt kunterbunte Abfallsäcke vors Haus statt mausgraue. Das deutsche Ehepaar kocht wässrige Käsesuppe statt sämiges Fondue – der Einbürgerungsbeamte rümpft die Nase. Mit «Die Schweizermacher» schuf Rolf Lyssy (81) 1978 den Film über das tragikomische Verhältnis der Schweizer zu ihren Ausländern schlechthin. 40 Jahre später ist der Filmplot von damals noch immer Realität. Die Nichteinbürgerung der Türkin Funda Yilmaz (25) in Buchs AG liest sich wie die Fortsetzung des Filmklassikers. BLICK traf Regisseur Rolf Lyssy in dessen Wohnung in Zürich.
BLICK: Rolf Lyssy, was geht in Ihnen vor, wenn Sie das Einbürgerungsprotokoll im Fall von Funda Yilmaz aus Buchs lesen? Sie musste 92 Fragen beantworten. Unter anderen, was sie von der Politik des türkischen Präsidenten Erdogan halte, ob ihre Eltern sich an ihrem Schweizer Freund störten – und warum sie in der Migros und nicht im Dorflädeli einkaufe.
Rolf Lyssy: Ich hatte gedacht, dass wir das Kapitel der unsäglichen Befragungen endlich abgeschlossen haben. Aber anscheinend sind wir kein Stück weiter als 1977. Ich habe meinen Film vor 40 Jahren gedreht und ich musste erkennen, dass die Schweiz so ist. Und bleibt. Der Fall Buchs bestätigt mich darin, dass der «Schweizermacher» nicht an Aktualität verloren hat.
Was ist störend daran, dass ein Ausländer befragt wird, der Schweizer werden will?
Man kann einen Menschen nicht so entwürdigend ausfragen. Das ist ja kaum zum Aushalten. Wäre ich in der Situation von Funda Yilmaz gewesen, wäre ich weggelaufen. Das hat mit Einbürgerung nichts zu tun. Das war ein junger Mensch, der den Schweizer Pass verdient, der alle Voraussetzungen mitbringt. Unser System ist überholt, wir müssen es dringend ändern.
«Die Schweizermacher»wird heute als Zeitdokument gesehen, dabei ist es eine überzeichnete Fiktion.
Nein, das stimmt nicht! Diese Einbürgerungssituationen von 1977 sind keine Überzeichnung. Das Publikum hat sich damals in zwei Lager geteilt: jene, die meinten, das sei doch sehr übertrieben; und jene, die sagten, es sei genau so – sogar noch schlimmer.
Was entgegnen Sie den Menschen, die sagen, es gebe kein Menschenrecht aufs Schweizersein? Man darf das Bürgerrecht auch nicht einfach so verschenken, sonst verliert es den Wert.
Was sind denn das für Befürchtungen? Niemand stellt die Voraussetzungen für das Bürgerrecht in Frage. Aber es ist egal, ob jemand in die Migros geht oder im Dorfladen postet.
Ab wann ist man Schweizer? Meine Nonna reiste 1936 aus Italien in die Schweiz ein, mein Vater 1969. Beide würden sich nie als Schweizer sehen. Das Ausländersein definiert ihr Selbstbild.
Die Frage ist doch, ob man sich mit der Schweiz identifiziert! Ausländer sein ist ein Gefühl. Fühlt man sich hier zu Hause, ist man Schweizer.
Die Linke behauptete über Jahrzehnte, dass Integration mit der Zeit, über Generationen automatisch passiere. Aber Tatsache ist, dass die Vermischung eine Utopie zu sein scheint. Die Trennung ist ein gesellschaftliches Phänomen.
Die kulturelle Prägung innerhalb der Familie ist stärker als alles andere. Da kann das Umfeld wohl so schweizerisch sein, wie es will: Der Mensch bleibt innerlich dort, wo seine Wurzeln sind. Das Fundament prägt. Im Unterschied zu früher sind uns die heutigen Einwanderer viel fremder als die Italiener damals.
Aber schon damals rief man nach einer Obergrenze. Heute wird die Personenfreizügigkeit so laut hinterfragt wie lange nicht mehr.
Ja, man muss die Einwanderung begrenzen. Ich bin zwar für die Personenfreizügigkeit, aber auch ihr muss man Grenzen setzen.
Sie sind für Kontingente?
Wir können die Schleuse nicht einfach so offen lassen. Sonst nimmt die Angst vor dem Fremden in der Schweizer Bevölkerung überhand. Ich bin kein Unterstützer der Politik, wie sie die SVP betreibt. Aber man kann die Augen nicht vor den Fragen verschliessen, die gestellt werden. Offensichtlich zwingt einen die Realität, ein System oder Strukturen zu erstellen, die eine gewisse Steuerung der Einwanderung zulassen.
In der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative gibt es aber keine Kontingente. Man kann von der Politik der SVP halten, was man will: Die Angst der Bevölkerung wurde nicht ernst genommen.
Die Masseneinwanderungs-Initiative hatte durchaus legitime Elemente. Die SVP hat Fragen gestellt, die in der Luft lagen. Ich habe die Initiative abgelehnt. Aber die Probleme, die sie angesprochen hat, sind nicht kleiner geworden.
Mein Vater, ein ehemaliger Saisonnier, hätte die erleichterte Einbürgerung abgelehnt, die Ausschaffungs-Initiative angenommen, würde wohl die Personenfreizügigkeit abschaffen. Mit der Erklärung: Wir mussten noch untendurch, haben geschuftet und uns benommen. Die neuen Ausländer werden verhätschelt. Warum wächst statt der Solidarität die Fremdenangst?
Ich stelle fest, wie unberechenbar und widersprüchlich die Menschen sind. Man kann den Menschen nicht dressieren wie Haustiere. Solidarisch sein und zu etwas stehen ist leider ein seltenes Gut. Man muss auch die Fähigkeit zur Solidarität haben, und das hat mit der Erziehung zu tun.
Empfinden Sie Überfremdungsangst?
Nein, aber nur deshalb, weil ich in einer Welt lebe, in der Ausländer uns viele tolle Dinge beschert haben. Ich bin kein Handwerker, der um seinen Job oder Lohn fürchtet, weil ein Fremder auf den Arbeitsmarkt drängt. Aber die Schweiz wäre ohne Einwanderung doch nicht zum Aushalten! Hier beisst sich die Katze in den Schwanz. Die Frage nach der Zahl, wie viel die Schweiz verträgt, schwebt über dem, was Einwanderung uns bringt. Unser heiliger Bauernstand wäre ohne Ausländer verloren. Wir sind kein Land mehr mit Grenzen. Wir sind in einer global vernetzten Welt. Und die Globalisierung hat ihre grosse Schattenseite. Das Problem der Überfremdung haben andere auch – aber Länder wie Frankreich oder Deutschland vertragen mehr Einwanderung als die kleine Schweiz. Unsere Kleinheit macht uns zu schaffen.
Die Schweiz ist auch eine Rosinenpickerin. Für Superreiche gelten ganz andere Einwanderungsbestimmungen. Solange der Ausländer uns viel Geld bringt, nehmen wir ihn gern.
So war der Schweizer leider schon immer. In der extremen Situation, in der wir sind, zeigt sich der hässliche Charakterzug, den unsere Gesellschaft nun mal hat. Und den trägt jeder mit. Die Angst vor dem Fremden ist in uns drinnen angelegt.
In der Bundesverfassung steht: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.»
Das ist ein schöner Satz. Aber können wir ihn leben? Gutmenschen sind eine Utopie. Und in der Schweiz lebt man auf einem anderen Planeten. Jetzt wird der Planet mit Fremden bevölkert.
Inwiefern definiert das Schweizersein Sie selbst?
Vor sechzig, siebzig Jahren hat der rote Pass mir sehr viel Sicherheit gegeben, so bin ich aufgewachsen. Das war die Folge des Zweiten Weltkriegs, weil wir verschont geblieben sind. Und diese Verschonung wirkt bis heute nach. Wir haben die Zerstörung der Städte nicht erlebt. Das prägt unsere Gesellschaft und mich bis heute.
Heute erleben wir eine Flüchtlingskrise, für die niemand eine Lösung zu haben scheint. In Onlinekommentaren zum Thema kommen oft purer Hass und Rassismus zum Ausdruck. Ihre Grosseltern wurden im Zweiten Weltkrieg deportiert und umgebracht. Was löst das in Ihnen aus?
Der Faschismus lässt sich nicht ausrotten. Ich dachte, man könne ihn wie ein Krebsgeschwür herausschneiden. Aber heute weiss ich: Der Faschismus bricht immer wieder hervor. Er ist im Wesen des Menschen angelegt. Man muss den Rassisten bändigen, der in jedem von uns hockt. Denn am Ende sind wir Tiere, die sprechen können.
Das klingt verbittert.
Ich bin nicht verbittert. Aber wir müssen uns damit abfinden, dass es keine friedliche Welt gibt. Es ist eine traurige Erkenntnis, aber eine realistische. Wenn man jung ist, will man das nicht wahrhaben und dagegen kämpfen. Und wenn man so alt ist wie ich, weiss man, der Mensch ist ein konservatives Wesen. Das Problem hockt im Kopf. Dort sind wir grenzenlos. Aber der Mensch braucht Grenzen. Wenn er sie nicht hat, baut er sie selbst.
Rolf Lyssy (81) wächst während des Zweiten Weltkriegs in Herrliberg ZH in einer jüdischen Familie auf. Mit «Die Schweizermacher» schafft der junge Regisseur 1978 den Durchbruch, zuvor hat er mit «Konfrontation – Das Attentat von Davos» einen Film über den Anschlag auf einen NSDAP-Gruppenleiter gedreht.
Ehrenfilmpreis Quartz
2012 wird Lyssy mit dem Schweizer Ehrenfilmpreis Quartz für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Sein nächster Film, die Komödie «Die letzte Pointe» über die Angst vor dem Altern, kommt im Herbst in die Kinos.
Rolf Lyssy (81) wächst während des Zweiten Weltkriegs in Herrliberg ZH in einer jüdischen Familie auf. Mit «Die Schweizermacher» schafft der junge Regisseur 1978 den Durchbruch, zuvor hat er mit «Konfrontation – Das Attentat von Davos» einen Film über den Anschlag auf einen NSDAP-Gruppenleiter gedreht.
Ehrenfilmpreis Quartz
2012 wird Lyssy mit dem Schweizer Ehrenfilmpreis Quartz für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Sein nächster Film, die Komödie «Die letzte Pointe» über die Angst vor dem Altern, kommt im Herbst in die Kinos.
Die Schweiz ist nicht nur für Superreiche attraktiv, sondern Superreiche sind das auch für die Schweiz. Seit 2008 erlaubt ein Paragraf im Ausländergesetz deshalb den Kantonen, Aufenthaltsbewilligungen an wohlhabende Ausländer zu vergeben – auch wenn diese die Zulassungsbedingungen nicht erfüllen. Eine Bewilligung aufgrund «wichtiger öffentlicher Interessen» nennt sich das offiziell. Das öffentliche Interesse sind in diesem Fall die erheblichen Steuereinnahmen, die die schwerreichen Ausländer der Schweiz bescheren.
Von 2008 bis 2016 haben dank dieses Paragrafen 523 Ausländer eine Aufenthaltsbewilligung bekommen; bei knapp einem Drittel davon handelt es sich um russische Staatsbürger. So hat beispielsweise der Kanton St. Gallen 2014 unter Angabe «wichtiger fiskalischer Interessen» dem russischen Kreml-Kritiker und Ölmagnaten Michail Chodorkowski (54) den Aufenthalt erlaubt. Lange konnte der Kanton allerdings nicht vom Vermögen des Milliardärs zehren: Bereits im Jahr darauf zog Chodorkowski von Rapperswil-Jona nach London.
Die Schweiz ist nicht nur für Superreiche attraktiv, sondern Superreiche sind das auch für die Schweiz. Seit 2008 erlaubt ein Paragraf im Ausländergesetz deshalb den Kantonen, Aufenthaltsbewilligungen an wohlhabende Ausländer zu vergeben – auch wenn diese die Zulassungsbedingungen nicht erfüllen. Eine Bewilligung aufgrund «wichtiger öffentlicher Interessen» nennt sich das offiziell. Das öffentliche Interesse sind in diesem Fall die erheblichen Steuereinnahmen, die die schwerreichen Ausländer der Schweiz bescheren.
Von 2008 bis 2016 haben dank dieses Paragrafen 523 Ausländer eine Aufenthaltsbewilligung bekommen; bei knapp einem Drittel davon handelt es sich um russische Staatsbürger. So hat beispielsweise der Kanton St. Gallen 2014 unter Angabe «wichtiger fiskalischer Interessen» dem russischen Kreml-Kritiker und Ölmagnaten Michail Chodorkowski (54) den Aufenthalt erlaubt. Lange konnte der Kanton allerdings nicht vom Vermögen des Milliardärs zehren: Bereits im Jahr darauf zog Chodorkowski von Rapperswil-Jona nach London.
Rolf Lyssy (81) wächst während des Zweiten Weltkriegs in Herrliberg ZH in einer jüdischen Familie auf. Mit «Die Schweizermacher» schafft der junge Regisseur 1978 den Durchbruch, zuvor hat er mit «Konfrontation – Das Attentat von Davos» einen Film über den Anschlag auf einen NSDAP-Gruppenleiter gedreht.
Ehrenfilmpreis Quartz
2012 wird Lyssy mit dem Schweizer Ehrenfilmpreis Quartz für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Sein nächster Film, die Komödie «Die letzte Pointe» über die Angst vor dem Altern, kommt im Herbst in die Kinos.
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Ehrenfilmpreis Quartz
2012 wird Lyssy mit dem Schweizer Ehrenfilmpreis Quartz für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Sein nächster Film, die Komödie «Die letzte Pointe» über die Angst vor dem Altern, kommt im Herbst in die Kinos.