BLICK: Frau Zanetti, Sie haben mir vorab geschrieben, dass Sie Mühe haben, sich fotografieren zu lassen. Ist das nicht ein Widerspruch?
Pia Zanetti: Alle Fotografen haben das. Man hat das Gefühl, selbst am besten zu wissen, wie man auf dem Bild gut aussieht.
Ihr Sohn fotografiert uns jetzt – ist es einfacher so?
Auf jeden Fall. Wir können gut zanken, ich sage: «Nein.» Er sagt halb im Ernst: «So nicht, sonst laufe ich davon.» Und dann finden wir uns. Ich habe auch keine Lust, mit jemandem zu arbeiten, der x Lampen aufstellt. Ich habe immer mit Tageslicht gearbeitet.
Wir stecken derzeit in einer grossen Krise. Braucht es schwierige Situationen für ein gutes Bild?
Eine heikle Frage.
Warum?
In der Ausstellung hat es eine Arbeit über die Stadt Muynak am Aralsee in Usbekistan. Zu Sowjetzeiten baute man dort eine Baumwoll-Monokultur an. Das legte den See trocken, die Lebensgrundlage der Leute verschwand. Auf dem Weg dorthin, in Moskau, wurde ich für eine Nacht festgenommen, totale Willkür. Und es war eisig kalt. Die ganze Arbeit war wahnsinnig schwierig. Aber die Bilder sind eindrücklich geworden. Vielleicht haben meine eigenen Schwierigkeiten geholfen, die harte Lebenssituation der Menschen dort besser zu verstehen.
Pia Zanettis (77) Antrieb war immer die Neugier. Diese war so stark, dass die gebürtige Baslerin auch dann an ihrem Traumberuf festhielt, als man ihr keine Lehrstelle geben wollte. Später traf sie ihren Mann, den Journalisten Gerardo Zanetti. Das eingespielte Reporterteam reiste in den Sechzigerjahren um die Welt, belieferte Publikationen wie «Schweizer Illustrierte», «Du», «Paris Match» und «Stern». Während ihrer Mutterschaft arbeitete sie vermehrt allein. Von all dem zeugt Zanettis umfangreiches Archiv. Die eindrücklichsten Werke sind in einem neuen Bildband und in der Ausstellung der Fotostiftung Schweiz in Winterthur ZH zu sehen.
Pia Zanettis (77) Antrieb war immer die Neugier. Diese war so stark, dass die gebürtige Baslerin auch dann an ihrem Traumberuf festhielt, als man ihr keine Lehrstelle geben wollte. Später traf sie ihren Mann, den Journalisten Gerardo Zanetti. Das eingespielte Reporterteam reiste in den Sechzigerjahren um die Welt, belieferte Publikationen wie «Schweizer Illustrierte», «Du», «Paris Match» und «Stern». Während ihrer Mutterschaft arbeitete sie vermehrt allein. Von all dem zeugt Zanettis umfangreiches Archiv. Die eindrücklichsten Werke sind in einem neuen Bildband und in der Ausstellung der Fotostiftung Schweiz in Winterthur ZH zu sehen.
Sie haben Menschen aus aller Welt getroffen. Unterscheiden wir Menschen uns in unserem Unglück?
Bei uns in der Schweiz ärgern sich die Leute, wenn der Zug zwei Minuten Verspätung hat. Auf anderen Kontinenten wissen die Menschen manchmal nicht, wie sie von einem Dorf ins andere gelangen können.
Wie gehen Sie mit dem Wechsel von einer Realität in die andere um?
Nach jeder Reise muss ich mein inneres Gleichgewicht wieder finden. Wenn ich am Flughafen Zürich ankomme, sehe ich als Erstes einen wunderschönen Pullover für Hunderte von Franken. Dann denke ich: Mit dem Geld könnten die Leute in Afrika einen Monat lang ein Dorf ernähren. Die Ungerechtigkeit geht mir nahe. Wieso ist es auf der Welt nicht möglich, den Wohlstand gerechter zu verteilen? Handkehrum stamme ich aus der Schweiz, mag schöne Kleider auch gern, kann zum Arzt, wenn mir etwas fehlt, und muss mich nicht stundenlang vor Schmerz durchschütteln lassen, bis man einen Wunderheiler gefunden hat.
Was können wir in der Schweiz von anderen lernen?
In Indien, Lateinamerika, Asien und Afrika ist man viel offener gegenüber Fremden. Die Gastfreundschaft ist enorm. Wer als Ausländer in die Schweiz kommt, den friert es. Die Leute sind meistens abweisend. Bei uns braucht es Zeit, bis man nach Hause eingeladen wird. Wir sind dann aber gut darin, Freundschaften zu knüpfen und zu halten. Schweife ich zu sehr ab?
Nein, wir sind auf Kurs! Sie sind oft dort, wo's brennt. Suchen Sie den Kick?
Nicht den Kick. Ich wollte durch meinen Beruf immer die Welt sehen. Ich wollte Teil werden von einem Ort, einem Dorf im Südsudan zum Beispiel, wo dich die Menschen alle zuerst anfassen müssen, weil sie so selten einen weissen Menschen sehen. Niemand bei uns weiss, dass es das Dorf überhaupt gibt. Und du bist die Einzige, die das sieht.
Sie hätten auch einfach Reisefotografin werden können.
Ich habe eine politische Haltung und den Anspruch, Missstände zu vermitteln. Meine Bilder verändern die Welt bestimmt nicht. Aber vielleicht regen sie die Leute dazu an, mehr über ein Land erfahren zu wollen.
Welche Reise hat Sie am meisten geprägt?
Südafrika während der Apartheid. Alle hatten davon gehört, aber was es heisst, konnten wir nicht verstehen, weil uns die Bilder fehlten. Als ich es vor Ort sah, war ich erschüttert.
Die Bilder jener Arbeit zeigen Gesichter voller Leid.
Sie wurden zu Menschen zweiter Klasse gemacht. Da gab es das sogenannte Boys' Meat, der letzte Abfall, den sie den schwarzen Angestellten gaben. Wir hätten damit in der Schweiz nicht mal einem Hund gefüttert. Oder in den Hotels: Dort brachten die Angestellten jeden Morgen Tee zum Aufstehen aufs Zimmer. Die Leute vom Hotel sagten uns, man könne auch nackt herumgehen, während die Angestellten den Tee auf den Tisch stellten, die spürten sowieso nichts, denn Schwarze hätten keine Seele. Diskriminierung passiert auch bei uns. Ich wohne im Kreis 4 in Zürich, da sehe ich öfter Schwarze, die von der Polizei durchsucht werden, weil sie für Drogendealer gehalten werden.
Sie wurden zu einer Zeit Fotografin, als das noch ein reiner Männerberuf war. Wie bekamen Sie das zu spüren?
Als ich eine Lehrstelle suchte, bewarb ich mich bei vielen Fotografen. Die Antwort war immer die gleiche: Wir nehmen schon einen Lehrling, aber eben keine Frau. Sie trauten mir als Frau nicht zu, die Ausrüstung herumzuschleppen. Und in den vier Jahren in Rom schlug ich mich unter lauter Machos durch, das kann man sich ja vorstellen ...
Nein, erzählen Sie.
Da stand ich auch schon mal bei einem Papstbesuch im Kolosseum neben den Paparazzi, das waren Apparate von Männern. Ich war keine Sophia Loren, eher mädchenhaft, zierlich. Sie stichelten: «Wo hast du deinen Mann, lässt er dich einfach gehen?» Ich machte dann einen Spruch zurück, im Sinne von, mein Mann schlafe und sei froh, dass ich Geld verdiene. Ich war ja weit und breit die einzige Frau in der Reportagefotografie.
Haben Sie darunter gelitten?
Nein, gar nicht. Ich liess sie reden, ich wollte einfach nur zu meinen Bildern kommen.
Inwiefern haben Sie sich Ihren Kollegen angepasst?
Ich habe mich weniger verletzlich gezeigt, als ich es war. Ich durfte kein Huschi sein, sonst wäre ich keinen Schritt weitergekommen. Aber es sind auch Freundschaften entstanden. Sie nahmen mich mit auf ihre Redaktionen, verschafften mir Arbeit. Und sie gaben mir den Übernamen «La Virgoletta» – das kleine Komma.
In Rom wurden Sie Mutter. Wie hat die Mutterschaft Ihre Arbeit verändert?
Mein Mann Gerardo und ich arbeiteten bis dahin zusammen. Mit Kindern ging das nicht mehr. Einer war immer auf Reportage und brachte das Geld heim, und der andere schaute zu den Kindern, abwechselnd. Ich wollte nicht nur Kinder hüten, sondern auch bei den Erwachsenen dabei sein. Ich war gierig nach dem Leben. In unserem Haus gingen ständig Leute ein und aus. Wir assen, tranken und diskutierten bis um zwei, und um sechs kamen die Kinder. Heute frage ich mich, wie ich das gemacht habe. (lacht)
Ist es einfacher, die eigene Familie zu fotografieren als einen Fremden?
Es braucht eine gewisse Distanz. Die Familie ist am schwierigsten. Man kennt sie so gut, hat Eigenheiten der nahen Menschen im Kopf, die man gern einfangen würde. Konkrete Bilder. Mit Distanz ist man viel unbefangener. Als würde man ein Kunstwerk zum ersten Mal betrachten.
Leisten Sie Hilfe, wenn jemand vor Ihrer Kamera welche braucht, oder bleiben Sie auf Distanz?
Da hört die Fotografie für mich auf. Die Welt dreht sich auch weiter – ohne mein Foto.
Haben Sie solche Situationen erlebt?
Als der Südsudan ein eigenes Land wurde, war das von Krieg und Hunger begleitet. Da erlebte ich, wie eine Frau vor einem Schulhaus auf dem Boden ein Kind geboren hat. Sie hatte nichts bei sich. Wir versuchten, Tücher und Essen zu organisieren, klopften an einen Container des Uno-Welternährungsprogramms. Die wollten erst nichts rausrücken, sie bräuchten eine Bewilligung aus der Hauptstadt. Wir mussten sie halb bedrohen, bis sie uns etwas gaben. Da kam mir nicht in den Sinn, ein Foto zu machen. Ich war auch nie eine Kriegsfotografin.
Aber Sie waren in Kriegsgebieten unterwegs.
Ja, aber mich hat der Alltag der Menschen im Krieg interessiert. Ich käme mir im Kriegsgeschehen fehl am Platz vor. Da müsste ich nach Hause, um Krankenschwester zu lernen, um den Menschen zu helfen. Fotografieren käme mir lächerlich vor.
Sie blicken auf 60 Jahre Fotoreportage zurück, ein Lebenswerk. Was kommt noch?
Die Arbeit an der Ausstellung hat mich gefordert, jetzt möchte ich sie mit meinen Freunden geniessen. Danach braucht es wieder Ruhe, damit aus mir heraus ein Interesse erwachsen kann.
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