Herr Battegay, Tempo ist in dieser Pandemie entscheidend. War die Wissenschaft jemals so schnell?
Manuel Battegay: Von der Ankündigung der Mondlandung 1961 bis zu ihrer Realisierung dauerte es acht Jahre. Von den ersten Beschreibungen von HIV-Fällen bis zur Entdeckung des Virus vergingen zwei Jahre. Und zwischen der Charakterisierung des Coronavirus und den ersten klinischen Impfstudien lagen gerade noch 65 Tage. Dieses Tempo war auch für mich äusserst beeindruckend.
Beeinflusst das unsere Wahrnehmung der Daten?
Die Geschwindigkeit kann uns überfordern. Für viele werden die Daten leider zu etwas Unwirklichem. Das sehen wir bei den Impfstoffen gegen Corona. Wegen des rasanten Entwicklungstempos glauben manche, da stimme etwas nicht. Und doch ist dieser Eindruck falsch. Denn letztlich sind viele Impfstoffe vom Konzept her genial einfach.
Die Realität ist allerdings noch schneller. Wenn neue Studien erscheinen, ist ihnen die pandemische Entwicklung schon wieder drei Schritte voraus …
Das stimmt. Aber wenn sich etwa die Intensivstationen so füllen wie im Herbst 2020, braucht es nicht immer fertige Studien zur Erkennung von Handlungsbedarf. Da müssen wir genau beobachten, gegebenenfalls korrigieren, das Offenkundige benennen und die entsprechenden Schlüsse ziehen. Wir nennen das Plausibilität.
Manuel Battegay (61) studierte in Basel Medizin. Als Assistenzarzt an der Uni Zürich forschte er über Viren und Impfungen. In den USA befasste er sich mit Hepatitis C, zurück in Basel mit HIV. 2002 wurde er Professor für Infektiologie an der Uni Basel und Chefarzt der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Universitätsspital Basel. Diese Ämter bekleidet Battegay bis heute. Als einer der Ersten in der Schweiz warnte er schon Anfang 2020 vor der Pandemie. Von April 2020 bis März 2021 war er Mitglied der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes. Er ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder.
Manuel Battegay (61) studierte in Basel Medizin. Als Assistenzarzt an der Uni Zürich forschte er über Viren und Impfungen. In den USA befasste er sich mit Hepatitis C, zurück in Basel mit HIV. 2002 wurde er Professor für Infektiologie an der Uni Basel und Chefarzt der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Universitätsspital Basel. Diese Ämter bekleidet Battegay bis heute. Als einer der Ersten in der Schweiz warnte er schon Anfang 2020 vor der Pandemie. Von April 2020 bis März 2021 war er Mitglied der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes. Er ist verheiratet und Vater zweier erwachsener Kinder.
Nach diesem Prinzip sagten Sie bereits im Januar 2020 voraus, dass noch im Sommer des gleichen Jahres eine Impfung gegen Corona komme – ohne dass Sie entsprechende Daten hatten.
Das schien mir damals plausibel oder zumindest möglich – aufgrund der Eigenschaften des Virus und der Möglichkeiten der aktuellen Forschung.
Sie behielten recht. Sie sagten im März 2020 aber auch, dass die zweite Welle schwächer würde. Da lagen Sie falsch.
Das stimmt, da lag ich falsch. Auch das gehört zur Beurteilung von Daten. Ich ging davon aus, dass die Dunkelziffer hoch und damit die Immunität in der Bevölkerung bereits ziemlich robust sein werde. Aber dann zeigten die Daten, dass die Dunkelziffer viel tiefer war. Also musste ich meine Beurteilung im Sommer 2020 korrigieren.
Mittlerweile fliessen die Daten wie Sturzbäche. Trotzdem laufen wir immer wieder in neue Wellen. Warum?
Um den Teufelskreis zu durchbrechen, brauchen wir eine robuste individuelle und gesamtgesellschaftliche Abwehr. Wegen Delta können wir aber gar keinen Prozentsatz für eine Herdenimmunität mehr beziffern. Deshalb sind auch in diesem Winter viele schwere Erkrankungen und Todesfälle absehbar. Mit einer sehr hohen Impfquote inklusive Booster könnte das Virus ab nächstem Frühling zirkulieren, ohne zu viele Menschen schwer zu treffen. Ich hoffe auch, dass dann neue Medikamente da sind.
Als Wissenschaftler vermitteln Sie Daten an die Öffentlichkeit. Es gab noch selten einen solchen Experten-Hype. Ist das gut oder schlecht?
Wir haben eine eindrückliche Rolle zugewiesen bekommen. Aber wir müssen unsere Grenzen kennen. Ich versuche, mich nur innerhalb des Bereichs zu äusseren, den ich auch wirklich gut verstehe. Sonst besteht die Gefahr, dass das Vertrauen in die Wissenschaft Schaden nimmt. Und vor allem: Wir entscheiden nicht über gesundheitspolitische Massnahmen.
Sie sind auch Chefarzt und behandeln Covid-Patienten. Verändert sich die Wahrnehmung der Daten, wenn Menschen tatsächlich an Corona erkranken?
Je akuter die Erkrankung, desto näher ist der persönliche Bezug zu den Daten. Das erlebte ich immer wieder auch bei Menschen, die vorher nichts davon hören wollten. Gerade in einer Notfallsituation sind Daten und Diagnosen unmittelbar mit Emotionen verknüpft. Sie erscheinen nicht mehr als etwas Abstraktes, was man einer bestimmten Weltanschauung unterordnet, sondern entscheiden oft über Leben und Tod. Darum nehmen Patienten bei einem überlebenswichtigen Eingriff auch allfällige Komplikationen in Kauf. Gerade in Akutspitälern betreuen wir ja Menschen sehr häufig in Notfallsituationen. Und da sind es keine Wahrscheinlichkeiten mehr. Im Spital werden die Daten sehr real.
Sehen Sie das auch bei ungeimpften Corona-Patienten?
Wir hören, dass die meisten von ihnen bereuen, die Daten zur Impfwirkung nicht ernst genommen zu haben. Ein vermeintlich kleines Risiko ist dann absolut.
Auch die Wirkung des Boosters wird verschiedentlich infrage gestellt.
Die Daten zeigen, dass die Impfwirkung nach sechs Monaten leider abnimmt. Ein Grossteil ist immer noch gut geschützt, aber es gibt immer mehr Impfdurchbrüche und Hospitalisationen entlang des Alters. Der Booster schützt die Geimpften und erschwert dem Virus eine ungehinderte Zirkulation. Auch das zeigen nämlich die Daten: Sobald sich Lücken auftun und gar keine Massnahmen mehr bestehen, breitet sich Delta sehr schnell wieder aus.
Trotzdem: Auch wer mit Daten argumentiert, hat nicht immer recht.
Natürlich nicht! Gerade mit Corona lernen wir ja täglich. Ich hatte gehofft, die Impfwirkung hält länger an. Wir müssen also immer wieder analysieren, was geschieht. Daten können auch Verzerrungseffekte in sich bergen, die nicht einfach zu erkennen sind. Ein Beispiel: Im Sommer gibt es wenige Fälle, also ist die Pandemie vorbei. Da stimmen zwar die Daten, aber die Schlussfolgerung ist falsch. Denn nach zwei Sommern sehen wir, dass die Saisonalität recht gross ist. Eine andere, schwere Verzerrung: Wir lesen bei 7,6 Milliarden verabreichter Impfdosen mehr von schweren, aber sehr seltenen Nebenwirkungen. Sollten wir nicht mindestens so betonen, wie viele gerettete Menschenleben dem gegenüberstehen?
Und doch stockt die Impfquote in der Schweiz. Stossen Sie als Arzt und Wissenschaftler da auch an eine Grenze?
Das ist so. Ärzte und Pflegende auf den Stationen, aber auch betroffene Patientinnen und Patienten sowie Angehörige wissen, dass die Betreuung mit künstlicher Beatmung, Erhalt verschiedener Organfunktionen und zusätzlichen Infektionen sehr belastend ist. Und trotzdem bleiben diese Fakten für viele Ungeimpfte etwas in ferner Zukunft. Deshalb ist es so wichtig, dass sich auch bei unter 50-Jährigen so viele wie möglich impfen lassen, zumindest diejenigen mit Risikofaktoren.