In Dörfern und in Städten, im Knast – und sogar im Spital: zur Bewachung von Gefährdern
Die Schweiz ersetzt Polizisten durch Securitys

Verträge mit diversen Sicherheitsfirmen zeigen: Eskaliert die Situation, treffen im Justizvollzug auch Privatpersonen heikle Entscheidungen.
Publiziert: 22.01.2023 um 00:25 Uhr
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Aktualisiert: 22.01.2023 um 10:08 Uhr
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Training für den Ernstfall: Mitarbeiter der Vüch AG bei einer Schiessübung. Sie bewachen auch Gefährder in Spitälern.
Foto: ZVG
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Thomas SchlittlerWirtschaftsredaktor

Schaffhausen sei zwar «blos e chliini Stadt», in der es «statt High Society blos Dameriige» gebe. Dennoch pries der Liedermacher Dieter Wiesmann (1939–2015) das «munzig chliinii Stuck Welt» als Ort, «wo sich’s guet lääbe loot».

Das war einmal. Mittlerweile scheint sich Schaffhausen in einen Sündenpfuhl verwandelt zu haben: Vor einem Jahr machten Teile der 37'000-Einwohnerschaft gegen Lärm, Müll und Drogen am Rheinufer mobil. In einer Petition forderten sie die «Durchsetzung der Polizeiverordnung» sowie «genügend Personal» für regelmässige Patrouillen.

Der Stadtrat äusserte zwar Verständnis für den Unmut, hielt aber fest, dass dauernde Polizeipräsenz «wegen der personellen Situation» nicht möglich sei. Um dennoch «Prävention wie Repression» zu gewährleisten, präsentierte man als Alternative eine private Sicherheitsfirma.

Gewaltmonopol: Sache des Staates

So kam es, dass von Mai bis September 2022 die Delta Security AG für Recht und Ordnung sorgte. Und weil deren Mitarbeitende auf «hohe Akzeptanz» gestossen seien, beschloss der Stadtrat Ende Dezember, auch in Zukunft auf deren Dienste zu setzen.

Schaffhausen liegt zwar «äänen am Rhii», ist in diesem Punkt aber typisch für die ganze Schweiz: Ob Arlesheim im Baselbiet, Brugg im Aargau, Landquart im Bündnerland, Oetwil am Zürichsee oder Thun, das Tor zum Berner Oberland – überall wurden in den letzten Jahren Polizeiaufgaben an Securitys ausgelagert.

Johanna Bundi Ryser, Präsidentin des Verbands Schweizerischer Polizei-Beamter, sieht das mit Sorge: «Es ist nicht die Aufgabe von Privatfirmen, auf öffentlichem Grund Pflichten der Polizei zu übernehmen.» Das Gewaltmonopol sei Sache des Staates und müsse es bleiben – zumal es auch von polizeilichen Sicherheitsassistenten ausgeübt werden könne.

Welche Aufgaben private Sicherheitsleute übernehmen, variiert von Ort zu Ort. Neben Patrouillengängen werden sie auch bei Littering oder Hundemarkenverstössen eingesetzt oder nehmen Personalien auf. In einigen Gemeinden können Verzeigungen oder Bussen auf Grundlage ihrer Rapporte ausgesprochen werden. Häufig werden Securitys auch in der Nacht losgeschickt, etwa bei Anrufen wegen Lärmbelästigung.Eine Gefährdung des Gewaltmonopols sehen die verantwortlichen Gemeinden und Kantone dennoch nicht. Gebetsmühlenhaft betonen sie, die Befugnisse der Privaten seien klar definiert und stark eingeschränkt.

Jürg Marcel Tiefenthal (50), Jurist und Kenner des schweizerischen Polizeirechts, sieht das anders. In einer Abhandlung über die «Herausforderungen des schweizerischen Föderalismus» kommt er zum Schluss, kantonale Lösungen zum Einsatz privater Sicherheitskräfte hätten sich als «wirkungsschwache Regulierungsversuche» entpuppt, die in der Praxis einfach zu unterlaufen seien.

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Dass es solche Auslagerungen zunehmend und in immer stärkerem Ausmass gibt, erklärt Tiefenthal mit fehlenden Ressourcen der Polizeikorps. Das zeige sich nur schon daran, dass es in der Schweiz mittlerweile mehr private Sicherheitsleute als Polizisten gibt.

Securitys entscheiden, wie Häftlinge angepackt werden

Mittlerweile fungieren die Securitys längst nicht mehr nur auf der Strasse als verlängerter Arm der Polizei, sondern auch im Justizvollzug der Kantone. Diese haben in den vergangenen Monaten mehrere Grossaufträge vergeben, bei denen sich die Frage stellt, ob das Gewaltmonopol des Staates gewahrt bleibt.

In Bern zum Beispiel werden Inhaftierte, die der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht vorgeführt werden müssen, seit August 2022 von Mitarbeitern der Securitas AG begleitet. Sie bekamen von der Kantonspolizei den Auftrag, eingewiesene Personen in ihre Zellen zu führen, sie zu bewachen, zu betreuen und für die jeweiligen Übergaben bereitzustellen.

Die Behörde schreibt dazu: «Die Kompetenzen und Tätigkeiten des Sicherheitsdienstes gehen nicht über das hinaus, was eine private Person machen darf.» Das «Pflichtenheft» der Securitas-Mitarbeitenden, das SonntagsBlick gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz einsehen konnte, offenbart jedoch, dass die Aufgaben der «privaten Personen» nicht ganz ohne sind. Securitas musste dem Staat nämlich garantieren, dass ihre Angestellten mit «Personen in psychischen und emotionalen Ausnahmesituationen» umzugehen wissen und «Strategien zur Deeskalation» beherrschten.

Der Kanton Basel-Landschaft wiederum setzt Securitas seit Sommer in den Gefängnissen Arlesheim, Liestal und Muttenz für den Nacht- und Wochenenddienst ein. Bei diesem Auftrag war in der Ausschreibung ebenfalls vermerkt, dass der Dienstleister in der Lage sein müsse, «im Eskalationsfall» Unterstützung zu leisten. Teilweise stehen den Privatpersonen für ihre Aufgaben in Gefängnissen auch «Reizstoffsprays» sowie «Hand- und Fussfesseln» zur Verfügung. So geht es aus Verträgen zwischen dem Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung des Kantons Zürich und Delta Security hervor.

Die Sicherheitsfirma wird ab März 2023 für Aufsichts- und Sicherheitsdienste, Nachtdienste sowie die Begleitung von Klientengesprächen im Justizvollzug verantwortlich sein. Den Kanton kostet das 4,1 Millionen Franken pro Jahr. Dafür verlangt er von den Auftragnehmern, dass sie sich «bei besonderen Vorkommnissen» richtig zu verhalten wissen und über Kenntnisse zum «Eigenschutz» und zur «Selbstverteidigung» verfügen.

Dieses Anforderungsprofil offenbart: Wenn eine Situation eskaliert, entscheiden auch Securitys darüber, wie Häftlinge angepackt werden – und nicht nur vereidigte Staatsdiener.

Auslagerung staatlicher Aufgaben

Bei Patienten in Spitälern, die polizeilich überwacht werden müssen, setzt Zürich ebenfalls auf private Sicherheitsdienste. Dies wird etwa nötig bei Gefangenen mit gesundheitlichen Problemen, die in einer Justizvollzugsanstalt nicht korrekt behandelt werden können. Seit etwas über einem Jahr stehen bei solchen Personen nicht mehr zwingend Polizisten vor dem Krankenzimmer, sondern auch Mitarbeitende der Sicherheitsfirma Vüch AG.

SonntagsBlick wollte auch diesen Vertrag einsehen. Das Gesuch wurde jedoch von der Kantonspolizei Zürich abgelehnt. Begründung: Dies würde die öffentliche Sicherheit «schwerwiegend gefährden». Laut Kantonspolizei seien teilweise Straftäter im Spital, die «schwere Delikte» begangen hätten und wegen «Flucht- oder Kollusionsgefahr» daran gehindert werden müssten, mit der Aussenwelt in Kontakt zu kommen. Zudem könnten auch Personen betroffen sein, von denen eine «Selbst- oder Fremdgefährdung» ausgehe. «Deren Bewachung in Spitälern und Kliniken, wo Betrieb und Infrastruktur nicht auf einen Freiheitsentzug ausgerichtet sind, stellt eine besondere Herausforderung dar», schreibt die Kantonspolizei.

Dem Personal der Vüch AG traut man diese Aufgaben offensichtlich zu – das Amt für Justizvollzug beurteilt die Auslagerungen als unproblematisch. Die Behörden beteuern, dass für die Anordnung hoheitlicher Entscheide stets die Vollzugseinrichtung zuständig bleibe.

Bundi Ryser vom Verband der Polizeibeamten hält die geschilderten Fälle dennoch für «sehr fraglich». Für sie steht fest, dass der Umgang mit Festgenommenen nicht an private Firmen ausgelagert werden sollte.

Florian Düblin, Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren, möchte einzelne Aufträge nicht kommentieren, hält aber fest, dass stets eine ausreichende Rechtsgrundlage bestehen müsse, sofern es nicht bloss um Unterstützungsaufgaben unter Aufsicht und Verantwortung von staatlichem Personal gehe: «Je tiefer der mit dem Auftrag verbundene Eingriff in die Freiheitsrechte der betroffenen Personen, desto detaillierter müssen die Aufgaben, Kompetenzen und Pflichten der ausführenden Mitarbeitenden geregelt sein.»

Die Zürcher Nationalrätin Priska Seiler Graf (54, SP) versuchte vor einigen Jahren, schweizweit einheitliche Regeln für solche Eingriffe zu schaffen. Ihre Motion scheiterte jedoch 2019 im Ständerat. Seiler Graf hält das Anliegen aber nach wie vor für berechtigt. «Ich überlege mir ernsthaft, nochmals einen Vorstoss zu diesem Thema zu machen.»

Auch Polizeirechtsexperte Tiefenthal hält einheitliche Regeln für dringend notwendig. Er kommt in seiner Analyse zum Schluss, dass sich der Wildwuchs bei der Auslagerung staatlicher Aufgaben nur durch eine nationale Gesetzgebung bändigen lasse.

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