Darum ziehen die Schweizer aufs Land
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«Corona hats möglich gemacht»:Darum ziehen die Schweizer aufs Land

Immo-Boom wegen Corona
Die Schweizer ziehts aufs Land

Das Land ruft! Hohe Preise und Corona sind die Hauptgründe für eine zunehmende Stadtflucht. Auf den Immobilienmarkt kommen turbulente Zeiten zu.
Publiziert: 22.08.2020 um 23:28 Uhr
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Aktualisiert: 23.08.2020 um 09:37 Uhr
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Vor einem Monat die vierköpfige Familie aus dem lärmenden Zürich ins idyllische Nänikon beim Greifensee.
Foto: Thomas Meier
Dana Liechti und Danny Schlumpf

Der Lockdown ist den Menschen in die Knochen gefahren. Jetzt wollen sie nur noch raus. Sie suchen Freiheit und Natur, aber auch Sicherheit und Distanz. Denn die Pandemie ist noch nicht vorbei. Enge Gassen, rappelvolle Trams und überfüllte Einkaufsläden machen vor allem die Städter nervös. Die Folge ist ein neuer Trend, der den Schweizer Immobilienmarkt aufmischt: Immer mehr Menschen haben genug vom Leben in der Stadt; sie verlassen die Zentren und ziehen hinaus aufs Land.

«Der Lärm, die Leute, der Verkehr – wir wollten weg», sagt Marilen Witten­sölder (33). Vor einem Monat zog sie mit ihrer vierköpfigen Familie aus dem lärmigen Zürich ins idyllische Nänikon nordöstlich des Greifensees. Sie sehnten sich nach der Ruhe, die der Lockdown über die Stadt brachte. «Das wollen wir wieder haben, aber im Grünen.»

Rekordzahlen bei Immo-Portalen

Corona hat bei den Städtern die Sehnsucht nach ländlicher Beschaulichkeit geweckt. Viele beginnen ihre Suche auf den Webseiten der Immobilienportale. Und die vermelden derzeit Rekorde. Die Plattform ImmoScout24 hat noch nie so viele Besuche registriert wie in den letzten Wochen und Monaten: acht Millionen allein im Juni – 62 Prozent mehr als im Vorjahr.

Ziel der Sehnsucht sind vornehmlich Wohnungen in Regionen abseits der Zentren. Zu diesem Schluss kommt eine Analyse des Immobilienportals Homegate.

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«Die Stadtflucht setzte schon vor Corona ein», sagt Donato Scognamiglio, CEO der Immobilienberatungsfirma IAZI. «Aber die Krise hat den Trend verschärft.» Vor Corona waren die Kosten der zentrale Treiber. Scognamiglio hat für SonntagsBlick die Preise von zehn Jahre alten, freistehenden Einfamilienhäusern mit 140 Quadratmetern Wohnfläche im Kanton Zürich verglichen: In der Grossstadt kostet so ein Haus 2,3 Millionen Franken, in Bülach nur 1,3 Millionen. Noch weiter entfernt vom Zentrum, im ländlichen Bauma, ist es schon für 982'000 Franken zu haben – der halbe Preis für eine Stunde Pendeln.

«Mit der Corona-Krise kommt jetzt noch die Angst vor einer Ansteckung hinzu», sagt Scognamiglio. «Die Grossstädte werden zu Überlaufbecken. Die Bevölkerungsentwicklung in Gemeinden wie Bülach oder Opfikon explodiert.»

Weniger Einwohner in Städten

Die Folge: Plötzlich legen die Zentren nicht mehr zu. Seit 2015 wuchs Zürich jährlich um knapp 6000 Einwohner. Im ersten Halbjahr 2020 aber nahm die Bevölkerung um 275 Personen ab. Dasselbe in Bern: Die Bundesstadt zählt heute 235 Einwohner weniger als zu Jahresbeginn.

Bloss: Wohin wollen die Menschen denn genau?

Die Immobilienberatungsfirma Wüest Partner und das Marktforschungsinstitut Realmatch360 haben für SonntagsBlick die Immobilien-Suchabos der grossen Schweizer Internetportale ausgewertet. Sie registrieren einen massiven Anstieg der Suchanfragen für Wohnraum in Feriengebieten, kleinen und mittelgrossen Städten sowie den sie umgebenden Regionen. Am auffälligsten sind die Anfragen für Gemeinden in Tourismusregionen wie dem Wallis oder Graubünden: Sie stiegen für alle Wohnungsformen im Juli 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 27 Prozent. Für Einfamilienhäuser nahmen sie gar um 50 Prozent zu.

Diesen Trend spürt man bereits vor Ort, sagt Alfred Conrad (51), Inhaber von Conrad Immobilien in Chur GR: «Wir führen Gespräche mit sehr vielen Städtern aus dem Unterland, die nach Graubünden ziehen wollen.» Dabei spiele nicht nur der Preis eine Rolle.

Familien weichen Menschenmengen aus

«Besonders Familien wollen aufs Land ziehen, um Menschenmengen auszuweichen», sagt Conrad. «Die Dörfer erleben gerade einen markanten Immobilienaufschwung.» Ein anderer Makler aus Graubünden sagt: «Es sind Gemeinden wie Thusis, Ilanz oder Malans, die jetzt plötzlich nachgefragt werden.» Und zwar nicht etwa für die Ferien: «Es geht um Erstwohnungen und Häuser.»

Das Social Distancing treibt die Leute aufs Land. Sollte Corona länger anhalten, legen die ländlichen Regionen noch stärker zu. Deshalb suchten sich die Leute wohl auch präventiv Wohnraum auf dem Land, glaubt Dominik Matter, Volkswirt beim Beratungsbüro Fahrländer Partner: «Weil wir ja davon ausgehen müssen, dass das nicht die letzte Pandemie war.»

Zudem sei es denkbar, dass auch Kurzarbeit oder Jobverlust zur Suche nach günstigeren Wohnmöglichkeit auf dem Land führe.

Für Martin Waeber, Managing Director von ImmoScout24, spielt Corona ebenfalls eine zentrale Rolle: «Die Menschen verbringen mehr Zeit in ihren eigenen vier Wänden. Das Wohnen ist für viele wichtiger geworden.» Dabei zeigten sich die Prioritäten der Suchenden deutlich: «Eine extreme Veränderung können wir bei den Suchanfragen für die Rubrik Balkon, Terrasse und Sitzplatz feststellen. Seit dem Lockdown stiegen die Anfragen für diese Kategorie um 30 Prozent.»

Preise in Städten sollen sinken

Ein weiterer Treiber der Stadtflucht ist das Homeoffice. «Wer zu Hause arbeitet, benötigt ein Büro auf Dauer», sagt Frédéric Papp, Immobilienexperte bei Comparis. «Wer weniger ins Büro fährt oder seine Arbeit gänzlich daheim erledigt, braucht nicht in der Nähe des Arbeitsortes zu wohnen, also in Zentren oder Agglomerationen.» Daher sei es möglich, dass die Miet- und Kaufpreise in den Städten und Agglomerationen sinken. «Gleichzeitig ist mit einer Zunahme in ländlicheren Gebieten zu rechnen.»

Bis zur Industriellen Revolution vor 200 Jahren lebten nur zehn Prozent der Menschen in Städten. Doch dann wuchsen und wuchsen sie. 2010 lebte bereits jeder Zweite in der Stadt. Bringt Corona nun die grosse Trendwende?

Der Geograf Werner Bätzing hat die komplexe Beziehung zwischen Stadt und Land in seinem neuen Buch «Landleben» historisch aufgearbeitet. Was seit Jahrhunderten gleich blieb: «Krisen wie Kriege oder die Pest fördern das Bild der ländlichen Idylle. Aber häufig nimmt diese Anziehungskraft mit dem Ende einer Krise auch schnell wieder ab.»

Für Bätzing ist deshalb klar: «Nur wenn Corona noch zwei oder drei Jahre bleibt, wird das Gespür für die Anfälligkeit der globalisierten Welt ein nachhaltiges Umdenken bewirken. Dann wird das Land im Vergleich zu den Zentren an Bedeutung gewinnen.»

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