So war Ignazio Cassis' Reise im Nahen Osten
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Irak, Oman und Libanon:So war Ignazio Cassis' Reise im Nahen Osten

Ignazio Cassis über seine Drei-Länder-Tour im Mittleren Osten
«Tabuthemen kommen unter vier Augen zur Sprache»

Irak, Oman und Libanon: Ignazio Cassis absolvierte diese Woche eine abenteuerliche Reise. Wir haben ihn begleitet. Auf dem Rückflug spricht er über seinen Zugang zu Ministern und warum es ihm wichtig ist, sich auch mit Menschen ohne politisches Amt zu unterhalten.
Publiziert: 11.04.2021 um 01:02 Uhr
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Aktualisiert: 11.04.2021 um 10:25 Uhr
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Ignazio Cassis besucht ein Teehaus in Bagdad in schreibt Dankesworte ins Gästebuch des Besitzers. Links seine Gattin Paola.
Foto: Ayman al-Amiri
Interview: Christian Dorer

Auf seiner Drei-Länder-Tour besuchte Ignazio Cassis den nach wie vor kriegsversehrten Irak – als erster Schweizer Bundesrat seit 42 Jahren. Nach 30 Jahren Unterbruch will Cassis in Bagdad wieder eine Botschaft eröffnen. Der Oman liegt zwischen Saudi-Arabien und Iran und ist ebenso neutral wie die Schweiz. Beide Länder setzen sich für Stabilität in der Golfregion ein. Im Libanon haben die Menschen jegliche Hoffnung und wegen Inflation ihr Erspartes verloren. Dort besucht Cassis den Krater der gewaltigen Explosion am Hafen und syrische Flüchtlinge an der Grenze. Ein dichtes und bewegendes Programm.

Herr Bundesrat Cassis, was bringt Ihre Osterreise in den Nahen und Mittleren Osten der Schweiz?
Ignazio Cassis: Visibilität, Reputationsgewinn und die Rolle als aktive Playerin in der Region. Das bringt der Schweiz Anerkennung und wichtige Beziehungen, um in Krisensituationen Probleme zu lösen.

Gibt es auch Aufträge für die Wirtschaft?
Nein, das ist Aufgabe des Wirtschaftsministers. Als Aussenminister schaffe ich aber die Voraussetzungen dafür.

Ist eine solche Reise Pflicht oder Freude?
Es ist natürlich eine Freude, aber auch meine Aufgabe als Aussenminister. Ich bin ein neugieriger Mensch und verstehe gerne, wie die Welt tickt. Auf dieser Reise habe ich unter anderem die neue Strategie des Bundesrates zum Mittleren Osten und Nordafrika erklärt.

Sie verbringen die meiste Zeit in den Palästen der Minister und nicht mit den normalen Menschen.
Deshalb bestehe ich darauf, dass ich auch den Alltag erlebe, wie etwa auf dem Markt in Bagdad. Auch will ich jeweils junge Leute treffen, denn sie sind die Zukunft und stecken nicht in den festgefahrenen Pfaden. Diese Erfahrung hilft mir in den offiziellen Gesprächen. Von meinen Gesprächspartnern wird es geschätzt, wenn ich mich mit ihrer Kultur beschäftige.

Welche Rolle kommt Ihrer Gattin zu, wenn sie Sie begleitet?
In diesen Ländern eine ganz besondere! Sie sehen es als Zeichen des Respekts. Das wurde mehrmals betont. Es ist ein Beweis, dass es mir wichtig ist, zu zeigen, dass ich mich in ihrem Land sicher und willkommen fühle und mich nicht nur aus beruflichen Gründen für sie interessiere.

Das gefährlichste Land war der Irak. Welche Eindrücke bringen Sie mit?
Der Irak hat eine reiche Kultur und ist die Wiege der Zivilisation. In den letzten 30 Jahren habe ich den Irak vor allem im Zusammenhang mit Krieg und Konflikten im Fernsehen gesehen. Jetzt befindet sich der Irak in einer wichtigen Übergangsphase, weg vom Krieg, zurück zu einer wichtigen geopolitischen Rolle. 42 Jahre lang war kein Bundesrat da. Jetzt ist es wichtig, dass die Schweiz anklopft und sagt, dass es uns gibt.

Warum?
Der Irak befindet sich in der Aufbauphase. Nun zeigt sich, welche Länder ihn dabei unterstützen und welche Länder erst dann kommen, wenn der Aufbau schon abgeschlossen sein wird. Die Schweiz sieht das Potenzial für die Zusammenarbeit mit dem Irak und will die Beziehungen zum Land intensivieren. Mittelfristig gehört dazu auch die Wiedereröffnung der Schweizer Botschaft. Dies war für sie ein wichtiges Zeichen.

Ist es nicht viel zu gefährlich, Schweizer Diplomaten in den Irak zu schicken?
Die Sicherheit ist tatsächlich eine Hürde. Beim Abendessen erzählten uns Diplomaten aus Italien, Polen, Dänemark und Holland, wie sie sich schützen. Daraus konnten wir wertvolle Erkenntnisse ziehen.

Haben Sie aus Ihrem Departement bereits Bewerbungen erhalten?
Der Irak wird vermutlich nicht der beliebteste Ort unter den Diplomaten sein, vor allem weil die Familie nicht dabei sein kann. Wir haben im Departement aber Diplomaten mit unterschiedlichen Interessen: jene, die lieber nach Paris, Berlin oder Rom gehen wollen – und jene, die gerne in Regionen wie dem Mittleren Osten arbeiten wollen.

Wie sprechen Sie Dinge an, die im Widerspruch zu unseren Werten stehen, im Irak Menschenrechte und Todesstrafe?
Direkt, mit Respekt und ohne belehrend sein zu wollen.

Was sagen Sie konkret?
Dass ich jetzt zu den unangenehmen Themen kommen möchte. Dann lautet die Antwort: «Please!» So kann ich zum Beispiel über die Todesstrafe sprechen. Wichtig ist die richtige Tonalität und Selbstkritik: Auch bei uns ist das Frauenstimmrecht erst 50 Jahre alt.

Bringt das etwas – oder tun Sie es, damit Sie in der Schweiz alle beruhigen und sagen können, Sie hätten auch über Menschenrechte gesprochen?
Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass es genügt, einmal ein Problem anzusprechen, und dann ist es gelöst. Aber steter Tropfen höhlt den Stein. Wenn alle westlichen Länder stets dieselben kritischen Punkte ansprechen, so kann das schon etwas bewirken.

Was sind Tabuthemen?
Wenn das Gegenüber das Gesicht verlieren könnte. Die ganz heiklen Themen besprechen wir deshalb nicht im offiziellen politischen Dialog, da dort neben den Ministern weitere Mitarbeiter am Tisch sitzen. Tabuthemen kommen unter vier Augen zur Sprache, entweder vor oder nach dem Dialog. Dort kann man sich von Aussenminister zu Aussenminister enorm viel sagen, ohne dass es peinlich wird.

Knüpfen Sie in offiziellen Gesprächen auch Freundschaften?
Freundschaften im Sinn von Facebook vielleicht (lacht). Eine echte Freundschaft kann man nicht in einem einzigen Treffen aufbauen. Im Oman jedoch habe ich den Aussenminister innert 24 Stunden drei Mal getroffen: zuerst privat bei ihm zu Hause zum Tee, weil er wissen wollte, wer ich bin und wie ich funktioniere. So war der politische Dialog am nächsten Tag viel einfacher. Zum Schluss folgte das Mittagessen, wo man etwas lockerer sprechen konnte.

Wenn ein Schweizer im Oman verhaftet würde, könnten Sie jetzt also den Aussenminister direkt anrufen?
Ja, das wäre problemlos möglich. Noch enger sind die Bande zum französischen oder zum österreichischen Aussenminister. Da rufen wir uns einfach auf dem Handy an, wenn etwas ist, oder schreiben SMS.

Wieso ist der Oman wichtig für die Schweiz?
Oman liegt zwischen Saudi-Arabien und Iran. Das Land ist neutral und sorgt in der Gegend für Stabilität. Da unterstützen wir sie gerne. Unsere beiden Länder sind bekannt für ihre guten Dienste und haben dieselben friedenspolitischen Interessen.

Wieso pflegt die Schweiz eine enge Bande mit den Guten und mit den Bösen?
Wir wollen mit allen Ländern diplomatischen Kontakt halten. So sind wir auch in Ländern, welche die Menschenrechte verletzen. Die Welt ist leider keine friedvolle Oase, wie wir sie gerne hätten. Ein schwieriger Dialog ist besser als kein Dialog.

Die Schweiz gibt dann jeweils als Grund an, wir seien halt neutral.
Die rechtliche Neutralität besagt nur, dass wir in keinen bewaffneten Konflikt hineingezogen werden dürfen. Politische Neutralität hingegen heisst nicht Gleichgültigkeit, sondern lediglich, dass wir mit allen sprechen und allen zuhören.

Wo ist die Grenze? Bei China sind Sie plötzlich deutlich geworden und haben die Menschenrechtssituation kritisiert.
In der neuen China-Strategie des Bundesrates sprechen wir die Menschenrechtssituation deutlicher an als bisher. Trotzdem wollen wir weiterhin gute Beziehungen zu China.

China hat scharf reagiert und spricht von «Verleumdung».
Das war in der diplomatischen Welt keine scharfe Reaktion. Scharf reagiert hätte China, wenn es Diplomaten ausgewiesen, Verträge gekündet oder einen geplanten Besuch abgesagt hätte. Das alles hat China nicht getan. Dass der chinesische Botschafter sich wehrt, ist normal.

Zum Abschluss Ihrer Reise haben Sie im Libanon ein Camp mit syrischen Flüchtlingen besucht. Was war das Ziel?
Ich sende damit ein klares Signal: Wir sind da. Vor Ort habe ich mich versichert, dass die halbe Milliarde, die wir in den letzten zehn Jahren zur Unterstützung der syrischen Flüchtlinge investiert haben, richtig eingesetzt wurde.

Das können Sie doch in einem einstündigen Besuch nicht beurteilen.
Meine Rolle ist es, mich zu versichern, dass die Dinge richtig gemacht werden. Wenn ich Zweifel hätte, könnte ich auch eine formelle Inspektion durchführen lassen. Bei jeglichen Zweifeln würden wir die Finanzierung sofort sistieren, wie wir das auch schon gemacht haben.

Eine Flüchtlingsfamilie hat Ihnen ihre Geschichte geschildert. Wie beeinflussen solche Begegnungen Ihre Politik?
Diese Familie sagte unmissverständlich, dass sie nach Syrien zurückwill, sobald dies wieder möglich ist. Das ist wichtig, damit ich weiss, welche Politik wir verfolgen müssen. Aber auch die Gespräche mit den Behörden: Ein Viertel der Bevölkerung im Libanon sind Flüchtlinge. Die Libanesen befürchten, dass es ihnen schlechter geht als den Flüchtlingen. Das ist innenpolitisch explosiv.

Müsste die Schweiz mehr Syrien-Flüchtlinge aufnehmen?
Das tun wir, aber nur gezielt, also zum Beispiel elternlose Kinder oder kranke Menschen. Und in einem Ausmass, das die Schweizer Bevölkerung akzeptiert.

Wenn Sie diese Probleme hier sehen: Müssten wir in der Schweiz zufriedener sein?
In der Politik zählt die Wahrnehmung eines Problems. Aber ja: Probleme können in einem Land wie der Schweiz oder dem Libanon nicht verglichen werden. Ich höre immer wieder von meinen Gesprächspartnern in der Welt: «Wir würden gerne die Probleme der Schweiz haben!»

Persönlich: Ignazio Cassis

Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Mediziner wurde 2007 Nationalrat und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Er steht dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor. Er ist verheiratet mit der Ärztin Paola Rodoni Cassis (57).

Ignazio Cassis kam 1961 in Sessa TI zur Welt. Der Mediziner wurde 2007 Nationalrat und präsidierte ab 2015 die FDP-Bundeshausfraktion. Am 20. September 2017 wählte ihn die Vereinigte Bundesversammlung in den Bundesrat. Er steht dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor. Er ist verheiratet mit der Ärztin Paola Rodoni Cassis (57).

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