Von der Ferne gesehen wirkt ein Hang immer steiler, als er wirklich ist. Das gilt auch für den vielleicht berühmtesten Berg von Verbier VS, den Bec des Rosses (3223 m ü. M.). Zum Glück! Erst vor einer halben Stunde sass ich noch auf dem Plateau des Col des Gentianes und spähte mit dem Feldstecher hinüber an die 400 Meter hohe Nordseite, auf die engen Couloirs, in denen sich an diesem Wochenende die weltbesten Freerider austoben.
Von ferne war ich mir sicher: Dort geht es wirklich senkrecht hinunter! Furchteinflössend wirkte dieser Hang, auch wegen der vielen Gneisfelsen, die ihn säumen. Dort mit den Ski hinunterzufahren, schien mir ein Ding der Unmöglichkeit.
Jetzt bin ich mitten im Aufstieg und merke, dass es nicht ganz so schlimm kommt. Trotzdem: Jeder Fehltritt ist hier verboten. Die Steigung beträgt schon mal über 45 Grad. Mit Steigeisen plagen wir uns hoch, die Ski auf den Rucksack gebunden. Mit ihnen will ich nachher irgendwie hier hinunter.
Ehrfurcht vor dem Berg
Heute Samstag, am 22. Verbier Xtreme, werden es mir die Profi-Freerider gleichtun. Darunter etwa die Waadtländerin Anne-Flore Marxer und der junge Walliser Yann Rausis, zwei Schweizer Hoffnungen auf den WM-Titel. Die Freerider bringen dem Bec des Rosses grosse Ehrfurcht entgegen – obwohl oder gerade weil hier kaum je Unfälle passierten. «Noch nie ist jemand an diesem Berg schwer oder gar tödlich verunglückt. Nicht beim Xtreme und meines Wissens auch sonst nie», sagt mein Bergführer Claude-Alain Gailland. Daran hat er mit seinen Sicherheitsvorkehrungen wohl einigen Anteil.
Es scheint fast so, als würde sich der Mythos Bec des Rosses nachsichtig zeigen, weil ihm die Rider solchen Respekt entgegenbringen. Die kalifornische Freeride-Legende Steve Klassen sucht nach einer Erklärung im Religiösen: «Dieser Berg ist für uns Fahrer wie eine Göttin, die wir verehren. Es entsteht eine persönliche, innige Verbindung zwischen uns. Aber wir müssen am Berg stets Demut zeigen. Denn er wird uns immer überlegen sein.»
Felsen umfahren statt darüberspringen
Und doch, so ehrfürchtig sie sind: Die Freerider springen von den Felsen hinunter, ich umfahre sie. Es sind diese Felsen, die den Final der Freeride World Tour zu einem solchen Publikumsspektakel gemacht haben. Doch für jeden Nicht-Profi sind sie tabu.
Bevor nun ich, Tage vor den Freeridern, den Bec des Rosses erklimme, muss ich wissen, wie ich wieder herunterkomme. Ich muss meine Linie bestimmen, wie man die individuelle Abfahrtsroute nennt. Meine schlängelt sich durch Dutzende von Felsen. Ein Labyrinth, das man nur von aussen überblickt. Ich trage einen Klettergurt und hänge am Seil, zusammen mit Bergführer Gailland. Er kennt sich mit Extremsport aus. 1992 gewann er die kleine Patrouille des Glaciers. Und 2015 fuhr er mit dem Velo alle 135 Walliser Gemeinden ab: 1200 Kilometer, für die er 80 Stunden brauchte. Für die Sicherheit am Verbier Xtreme ist der Walliser nun zum 17. Mal verantwortlich.
Am Berg herrscht Ebbe
Im Monat vor dem Event klappert er den Bec alle paar Tage ab. Es gibt also keinen besseren Begleiter als den 43-Jährigen, um diesen magischen Berg zu erkunden. «Dieses Jahr liegt wenig Schnee. Ebbe nennen wir das in unserem Jargon. Trotzdem herrscht Lawinengefahr. Wir mussten deshalb mit dem Helikopter ausfliegen und Sprengungen ausführen», sagt er. In seiner Amtszeit sei dies erst zum zweiten Mal nötig gewesen. Gailland zeigt mir, wo sich über uns ein Schneebrett gelöst hatte: gut 200 Meter breit die Bruchstelle, bis zu 2,5 Meter dick. All der Schnee kam erst viel weiter unten zum Stillstand. Ein 15 Meter hoher Hügel erhebt sich jetzt dort. Eigentlich wollten die Xtreme-Veranstalter just dort eine VIP-Tribüne aufstellen. Daraus wird nun nichts.
Auf dem Weg zum Gipfel legt mein Guide einen Zwischenstopp ein. Er macht Messungen, die er direkt nach Davos ans Institut für Schnee- und Lawinenforschung schickt. Sie geben Aufschluss über Schneebeschaffenheit und mögliche Risiken. Dann geht es weiter den Hang hoch. Die Fahrer werden es am Samstag weniger anstrengend haben als wir. Ihr Weg ist weniger steil, vorpräpariert und auf dem Grat mit einem Seil gesichert. Auf unserer Route sind wir die Ersten. «Ich liebe dieses Alleinsein inmitten der Berge», sagt Gailland. «Jedes Jahr ist es wieder eine Freude!» Ich keuche nur.
Einen Kilometer weiter unten, bei der Mittelstation von La Chaux, beobachtet uns jemand mit dem Feldstecher. Es ist Eddy. «Einsiedler» nennen sie ihn, den Walliser mit kolumbianischen Wurzeln. Er campt hier oben vier Wochen lang. Sein Auftrag: Er soll neugierige Tourenskifahrer daran hindern, vor dem Wettkampf den Berg mit ihren Spuren umzupflügen. Heute aber hat Eddy nur Augen für uns. Sollte sich eine Lawine lösen, würde er den Helikopter rufen. Doch laut Bulletin besteht heute nur mässige Lawinengefahr, Stufe 2 von 5. Immerhin, das hatte vor drei Wochen gereicht für das verheerende Lawinenunglück im Tirol (BLICK berichtete).
Atemberaubende Aussicht
Endlich, nach eineinhalb Stunden Aufstieg, erreichen wir den Gipfel. Fast. Wir müssen uns nämlich mit der Abfahrt vom Damenstart (3000 m ü. M.) begnügen. Die Männer stürzen sich sonst 200 Meter weiter oben in den Tiefschnee. Doch weil der Wind viel verweht hat, lassen wir den obersten Teil heute aus. Der Blick auf Grand-Combin-Massiv und Mont Blanc ist trotzdem atemberaubend. Auf der anderen Seite schlummert 2000 Meter weiter unten im Tal das Dorf Lourtier. «1999 riss eine riesige Lawine das Dorf entzwei. Sie kam vom Gipfel des Bec», sinniert Gailland.
Nun gilt unsere volle Konzentration der Abfahrt. Sie kostet mich zwanzig Minuten Fahrzeit und mehrere Pausen. Profis fliegen in zwei bis vier Minuten die «Göttin» hinunter. Und müssen natürlich keine Stopps einlegen. Übersäuerte Oberschenkel plagen nur Fahrer wie mich. Ich will nicht prahlen, aber es ist definitiv das steilste Stück, das ich auf Ski je zurückgelegt habe! Doch ich kenne auch die Risiken. Der tragische Lawinentod der Walliser Freeride-Ikone Estelle Balet (BLICK berichtete) ist hier noch immer allgegenwärtig. Selbstverständlich trage ich einen Helm. Und habe die klassische Lawinenausrüstung bei mir: Suchgerät, Schaufel, Sonde. Die Freerider tragen zudem einen Lawinen-Airbag und einen Rückenpanzer.
Keine Sekunde Unkonzentriertheit erlaubt
Was alles nichts nützt ohne Vorsicht. Denn oft sieht man nicht, was einen zehn Meter weiter unten erwartet. Der Bec des Rosses verzeiht nicht eine Sekunde der Unkonzentriertheit. Ein Fehler, und man schlittert Hunderte Meter in die Tiefe oder stürzt von einem Felsen.
Zwanzig Minuten. Für meine Linie nehme ich mir Zeit. Der Berg sorgt dafür, dass ich wachsam bleibe. Unten angekommen, erfasst mich ein Gefühl der inneren Zufriedenheit. Es hält mehrere Stunden an. Auf dem Weg nach Hause sitze ich in einem überfüllten Zug zwischen Pendlern und ihren Handys. Ich begreife, was mir der Berg für eine wunderbare und doch so schwer anzunehmende Botschaft mitgeben wollte: Sei einfach da – für dich, für deine Nächsten und für alle anderen.
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