Aline (22) bückt sich, formt einen Schneeball, holt aus und wirft ihn mit voller Kraft durch den Garten. Die St. Gallerin strotzt vor Energie und Lebensfreude. Ärzte haben der jungen Frau ein neues Leben geschenkt.
Es ist der 26. August 2007: Die damals 15-Jährige ist mit ihrem Handballverein an einem Turnier in Flawil SG. Beim zweiten Spiel bricht sie zusammen und bleibt ohnmächtig liegen. Die Kolleginnen kümmern sich um sie, denken an einen Kreislaufkollaps. Schliesslich ist dieser Sonntag schwül und heiss. Doch der Handballerin geht es immer schlechter. Ihr Herz rast.
Im Rettungswagen sagt die Notärztin zu Alines Mutter Patricia (54): «Es ist ernst.»
Die Ärzte im Spital diagnostizieren einen schweren Herzfehler. Die rechte Herzwand ist stark vergrössert, die Seitenwand dünn wie Papier. In der Fachsprache heisst das: arrhythmogene rechtsventrikuläre Herz-Dysplasie. «Weltweit ist diese Krankheit eine der seltensten, die mit einer Transplantation behandelt werden muss», sagt Herzchirurg Thierry Carrel vom Inselspital Bern.
Die Diagnose kommt völlig überraschend. Aline hatte täglich Sport getrieben, spielte Handball und schwamm oft am Abend noch 80 Längen im Schwimmbad. Ausser leichten Atemproblemen hatte sie nie zuvor etwas von ihrer Krankheit gemerkt.
Nach etwa drei Wochen wird sie aus dem Spital entlassen. Immer wieder leidet sie unter schweren Herzrhythmusstörungen. Am 11. September 2007 pflanzen ihr die Ärzte einen Defibrillator ein. Das kleine Gerät versetzt Alines Herz jedes Mal einen Stromstoss, wenn es aussetzt oder viel zu schnell schlägt.
«Erst einmal ging es mir mit dem Defibrillator besser», erzählt sie. «Aber mein Herz wurde immer schwächer.»
Im Kantonsspital hat Aline einen Puls um 200
Einmal bricht Aline beim Spazierengehen mit einer Freundin zusammen, dann beim Besuch der Grosseltern, während eines Skiwochenendes in Arosa GR, bei der Firmung einer Cousine in der Kirche.
«Langsam ging es mir auf den Wecker», sagt Aline. «Die Angst war mein ständiger Begleiter.» Sie wagt sich immer seltener in den Ausgang. Doch sie will nicht, dass die Krankheit ihr Leben bestimmt. Deshalb beginnt sie eine Ausbildung an der Fachmittelschule für Gesundheit. Am ersten Schultag passiert es: Ihr Herz rast. «Ich lag auf dem Rasen, fünf Mal hintereinander kam der Defibrillator zum Einsatz.»
Im Kantonsspital messen die Ärzte einen Puls um 200. Nur mit starken Medikamenten kann er beruhigt werden. Voller Angst verfolgen Alines Eltern die Computerkurve: «Ihr Herz flimmerte nur noch», sagt die Mutter.
Im Juni 2011 operieren Ärzte im Inselspital Aline erstmals am Herz. Durch die ständigen Infarkte ist es stark geschwächt. Die Spezialisten veröden mehr als 100 Narben. Bald nach der Operation wird sie erneut entlassen. Doch ihr Herz ist zu krank.
«Die Ärzte sagten uns, dass Aline nur mit einem neuen Herzen gerettet werden kann», erzählt die Mutter. Ohne Transplantation habe sie nur noch wenige Monate zu leben.
Am 18. Juli 2011 bricht die junge Frau wieder zusammen. Die Ärzte wissen: Findet sich nicht schnell ein Spenderherz, wird Aline sterben. Die Suche nach einem passenden Spenderorgan läuft auf Hochtouren. Wenige Tage später die erlösende Nachricht: Es gibt ein passendes Herz. Noch in der Nacht beginnen die Ärzte im Inselspital mit der Operation.
Vater Markus (51), Mutter Patricia und Bruder Nicolas (19) warten vor dem Operationssaal. «Ich fürchtete immer wieder das Schlimmste, hatte aber immer Hoffnung», sagt Mama Patricia. Der Morgen bricht herein. Doch die Familie weiss immer noch nicht genau, wie es Aline geht.
Dann endlich, kommt ein Arzt. «Ich habe zwei Nachrichten», sagt er, «eine gute und eine schlechte.» Die schlechte sei, dass das Spenderherz in Alines Körper nicht angefangen habe zu schlagen. Warum, wissen auch die Ärzte nicht. Alines Eltern sind verzweifelt. Doch es gibt ja noch die gute Nachricht: Die Ärzte konnten bereits ein zweites, passendes Spenderherz finden.
«Normalerweise beträgt die Wartezeit für ein Spenderherz mehrere Monate», sagt Alines Mutter. «Wir hatten so ein enormes Glück!»
Nach der missglückten Transplantation ist Aline an ein künstliches Herz angeschlossen worden. Sie liegt auf der Intensivstation, bis das neue Spenderorgan bereit ist.
16 Stunden lang wird sie am Leben gehalten. Dann beginnt die zweite Operation.
Die Anteilnahme im Spital ist riesig. Freunde von Aline zünden vor der Kathedrale in St. Gallen Kerzen für sie an. Stunden später kommt die Nachricht: Alines drittes Herz schlägt!
Vier Jahre lang brauchte Aline, bis sie sich stark genug fühlte, um über ihre unglaubliche Geschichte zu sprechen. «Innerhalb von 36 Stunden hatte ich drei Herzen in meinem Körper», sagt sie. «Das neue Herz ist ein grosses Geschenk!»
Heute schluckt Aline jeden Tag zwölf Medikamente – und kann mittlerweile ein normales Leben führen. Sie arbeitet bei einer Werbeagentur, fährt regelmässig Ski und schwimmt.