Das neue Buch über Sie, «Von Herzen», ist eine Mischung aus Biografie und der Schilderung von 20 Schicksalen Ihrer Patienten. Wie kam es dazu?
Thierry Carrel (55): Ich bekam wiederholt Anfragen für eine Biografie. Aber in meinem Alter ist es zu früh dafür. Meine Biografie ist nicht abgeschlossen. Vielleicht kommen die interessantesten Jahre erst noch. Und nur weil etwas Bio-Grafie heisst, muss es noch lange nicht gesund zum Lesen sein (lacht)!
Trotzdem ist ein Buch über Sie erschienen.
Der Unterschied: Nicht ich habe es geschrieben, sondern Autor Walter Däpp. Und ich stehe nicht im Vordergrund, sondern meine Patienten. Es ist ein Novum, dass Patienten überhaupt bereit sind, öffentlich über ihre Krankengeschichte zu reden. Durch die Mischung von alten und jungen Patienten, Frauen und Männern, Ausländern und Schweizern sowie unterschiedlichen Krankheitsbildern bekommt man einen Überblick über die Arbeit in der Herzchirurgie. Die Geschichten sollen Menschen Mut machen, die vielleicht selbst an einer Erkrankung am Herz leiden.
Erwähnt wird auch Ihre Operation am Herz von Hans-Rudolf Merz. Der erste Gedanke, als Sie erfuhren, dass er Ihr Patient wird?
Hoppla! Ich habe mir gleich gedacht, dass dies eine spezielle Übung werden könnte (siehe BLICK-Serie).
Das Herz hat etwas Mystisches, wird als Ort der Seele bezeichnet. Sind Sie bei Ihren Operationen am offenen Herz schon einer Seele begegnet?
Bisher nicht – was nicht heisst, dass sie sich nicht auch dort befindet. Ich beschäftige mich natürlich mit der Frage, wo die Seele ihren Sitz hat.
Wo vermuten Sie diese?
Zumindest biologisch assoziiere ich die Seele mit unseren Gedanken. Die Seele besteht vielleicht aus diesen Gedanken, den Erinnerungen, all den Gefühlen, die man hat. Ich bin in einem traditionellen Umfeld aufgewachsen, habe die katholische Universität besucht, sehe das also nicht nur von der naturwissenschaftlichen Seite.
Weshalb entschieden Sie sich für das Herz als Spezialgebiet?
Es ist eine extrem dankbare Arbeit. Bei uns geht es zwischen 95 und 98 Prozent der Patienten danach sehr gut. Das gibt uns Medizinern Flügel und Energie. Bei ein bis zwei Prozent der Patienten ist das Resultat gut, aber nicht ganz zufriedenstellend. Und ein ganz kleiner Prozentanteil überlebt es leider nicht.
Sie erwähnen im Buch, dass der Tod selbst unter Medizinern tabuisiert werde. Weshalb ist das so?
Das Ziel der Medizin des 21. Jahrhunderts ist, den Tod zu bekämpfen. Bei vielen Krankheiten ist es gelungen, den Tod zu verschieben. Aber am Ende wird jeder sterben müssen. Die Medizin beschäftigt sich zu wenig mit Menschen, bei denen kein anderer Ausgang möglich ist als ein baldiger Tod.
Was hat das für Konsequenzen?
Man schiebt diese Arbeit, die Sterbebegleitung, zum Teil auf andere Instanzen. Das hat zu einem Auftrieb von Organisationen wie Exit oder Dignitas geführt. Ich bin nicht grundsätzlich gegen solche Einrichtungen. Aber letztlich sollte die Gesellschaft wissen: Auch die Medizin hat gute Möglichkeiten, dass man in Würde und möglichst schmerzlos sterben kann.
Im Buch wird auch Ihre 22-jährige Tochter erwähnt. Haben Sie ein schlechtes Gewissen, dass sie ihren Vater oft mit Spital und Patienten teilen musste?
Das hat jeder Mediziner, der so viel gearbeitet hat. Heute arbeite ich 80 bis 90 Stunden in der Woche. Früher als junger Assistenz- oder Oberarzt war es vielleicht manchmal noch mehr. Jeder von uns jungen Ärzten hätte mehr Zeit zu Hause verbringen wollen. Meine Tochter versteht das, wir haben ein inniges, intensives Verhältnis. Ich habe ja nicht meine Zeit vertrödelt, sondern Leuten geholfen und versucht Leben zu verbessern oder zu verlängern. Es war ein Balanceakt zwischen zwei Dingen, die beide sehr wichtig sind. In der Beziehung zu meiner Tochter kommt Qualität vor Quantität. Das zählt.
Sie sind in zweiter Ehe mit TV-Moderatorin Sabine Dahinden verheiratet. Welche Lehren haben Sie aus Ihrer Scheidung gezogen?
Aus jeder gescheiterten Situation müssen Sie lernen. Ich habe danach auch relativ lange alleine gelebt, um mich zu besinnen und zu wissen, wie es weitergeht. Der grosse Unterschied ist, dass wir beide beruflich extrem engagiert sind. Auch hier zählt die Qualität des Zusammenseins.
Befolgen Sie den Rat Ihres 90-jährigen Vaters, etwas zu bremsen?
(Lacht) Eigentlich nicht. Als ich angefangen habe zu studieren und die Leute fragten, was ich mache, sagte er immer stolz, aber auch etwas bescheiden: «Er macht ein wenig Medizin.» Dieses «bisschen» Medizin, die Sorge um die Patienten, ist mein Leben.