Dürfen sich Pfarrer selbst befriedigen? Priscilla Schwendimann (28) sitzt im Kapuzenpullover in einem improvisierten Studio im Pfarrhaus in Kölliken AG, eine Kamera ist auf sie gerichtet. Zusammen mit ihrer Kollegin Claudia Steinemann (33) kreiert die reformierte Pfarrerin Content für ihren neuen Social-Media-Kanal «Holy Shit».
Die klassischen Influencer sind uns bekannt: Sie lancieren Make-up-, Mode- oder Fitnesstrends, filmen sich und ihr Leben. Nun gibt es eine neue Spezies: «Christfluencer» teilen etwas ganz anderes auf Instagram und Co. – ihren Glauben. In Frankreich ist die Zahl der auf Tiktok aktiven Pfarrer und Priester seit Corona in die Höhe geschnellt. Als keine Gottesdienste stattfinden durften, suchten sie im Netz mit den Gläubigen Kontakt. Wenn der französische Star-Tiktoker Matthieu Jasseron (34) vom Erzbistum Sens-Auxerre locker-flockig ein «Unpacking» macht – statt Schminke wie bei einer Beauty-Influencerin werden ihm Kerzen zugeschickt –, schauen ihm 400 000 Menschen zu. Der Boom ist so gross, dass die französische Bischofskonferenz nun eine Arbeitsgruppe zu Tiktok einberufen hat. «Die Pandemie hat die Kirche in Bezug auf die sozialen Medien 100 Jahre nach vorne katapultiert», sagt Priscilla Schwendimann. Die junge Frau, die in den letzten Monaten als erste lesbische «Regenbogen-Pfarrerin» Bekanntheit erlangte, betet auf ihren Kanälen nicht, sondern spricht über Glaube, Sexualität, psychische Krankheiten oder Transgender-Fragen. «Wir als Kirche müssen dort sein, wo die Menschen sind», ist sie überzeugt. Fakt ist: Im Gottesdienst sitzen sie immer weniger.
Kontakt zu den Menschen suchen
Auch die katholische Kirche der Stadt Zürich lancierte vor kurzem ihren eigenen Youtube- und Instagram-Kanal mit Namen Urbn.K (steht für «Kirche urban»). Eine Verzweiflungstat, um ein Austrocknen der Kirche zu verhindern? «Wir wollen mit dem Format mit den Menschen in Kontakt kommen und bleiben. Glaube hat mit Beziehung zu tun. Alles Weitere kann, muss sich aber nicht ergeben», so Uwe Burrichter (59), Co-Dekan. Die Videos von Urbn.K sind poppig gestaltet, die Sprache ist direkt. Die Moderatoren stellen sie sich etwa der Frage: «Braucht es die Kirche noch?»
Gott und Instagram, das passe gut zusammen, findet Burrichter: «Social Media besteht aus Menschen, die sich verbinden, vernetzen, austauschen. Das ist Gemeinschaft, und zum Glauben gehört Gemeinschaft. Ich halte es übrigens für sehr wahrscheinlich, dass Jesus heute auch auf Instagram und Youtube wäre! Er baute eine Gemeinschaft auf, also eine Community – und alle, die ihm nachfolgten, waren im wahrsten Sinn des Wortes Follower.»
Digitale Spiritualität ist gefragt
Dass sich in den Kirchen etwas tut, zeigt auch das Beispiel der reformierten Pfarrei Langenthal BE: Dort wurde kürzlich per Spotify-Podcast nach einem neuen Pfarrer gesucht. In den Orden hievt man sich ebenfalls in die Gegenwart. Die Dominikaner des Klosters Saint-Hyacinthe in Freiburg stehen abwechselnd vor die Kamera, um auf Instagram das Evangelium des Tages zu erklären.
Der Bedarf an digitaler Spiritualität sei gross, sagt Priscilla Schwendimann. Sie betreibt inzwischen Seelsorge über Insta-Message: «Vielen fällt es leichter, mir hinter ihrem Bildschirm bestimmte Fragen zu stellen, als in der Kirche.» Ausserdem sei die Hemmschwelle für einen ersten Kontakt tiefer: «Auf ein Video zu klicken, ist einfacher, als zum ersten Mal allein einen Gottesdienst zu besuchen.»
Findet der Glaube 2.0 künftig nur noch im Netz statt? «Nein», sagt Schwendimann. Auch Oliver Krüger (49), Religionswissenschaftler an der Universität Freiburg, winkt ab: «Instagram oder Tiktok schaffen erste Berührungspunkte, aber die physische Begegnung werden sie nicht ersetzen.»
Im Ausland haben «Christfluencer» grossen Erfolg
Freikirchen wissen Social Media schon seit längerem wirkungsvoll einzusetzen. Leo Bigger (52), etwa Pastor bei International Christian Fellowship in Zürich, zählt mehr als 27'000 Insta-Follower. Religionswissenschaftler Oliver Krüger: «Die hierarchisch festgefahrenen Strukturen in den Landeskirchen führen dazu, dass es dauert, bis Entscheide zu neuen Projekten fallen. Zudem sind die oft älteren Herren in den Gremien meist nicht besonders Social-Media-affin.»
Der Erfolg der Christfluencer nimmt zum Teil überirdische Dimensionen an. Auf den Philippinen evangelisiert Priester Fiel Pareja (30) via Tiktok zwei Millionen Abonnenten. Starkult in der Kirche – widerspricht sich das nicht? Oliver Krüger: «Klar kann man das kritisieren, aber aus missionarischer Sicht ist es für die Kirchen begrüssenswert, wenn sie im Netz beliebte Aushängeschilder haben. Früher schrieben die Pfarrer ein Buch, heute posten sie auf Instagram, Twitter oder Youtube.» Die hiesigen Influencer feiern aktuell noch bescheidenere Erfolge. Das meistgesehene Video von Urban.K generierte 48 000 Aufrufe. Vielleicht folgt der grosse Durchbruch für die Zürcher Katholiken aber auch auf Tiktok. Co-Dekan Uwe Burrichter: «Ein Projekt ist in den Startblöcken.»