Paris, Kopenhagen, Nizza und nun Berlin. «Die meisten Holocaust-Überlebenden haben grosse Angst», sagt Anita Winter, (54), Präsidentin der Stiftung Gamaraal. «Der Terror steht vor der Tür, die Angst davor – und vor Antisemitismus – ist in ihre Herzen eingebrannt!» Zum jüdischen Lichterfest Chanukka, das gestern begann, konnte sie einen Unterstützungsbeitrag an 84 von Armut betroffene Holocaust-Opfer in der Schweiz überweisen.
«Die Dunkelziffer ist sehr viel höher», sagt Winter, selbst Tochter von Holocaust-Verfolgten. «Experten gehen davon aus, dass jetzt noch 480000 Holocaust-Opfer weltweit leben, die Hälfte von ihnen ist armutsbetroffen.»
«Wir geben ihnen finanzielle Zuwendungen, Zeit und vor allem die Gewissheit, dass sie nicht alleine sind, ihre Traumata verstanden werden.»
Die Stiftungspräsidentin: «Es ist mir eine Herzensangelegenheit, ihnen zu helfen und beizustehen.» Die Mittel dazu spenden Banken, Privatpersonen und Holocaust-Überlebende, denen es finanziell gut geht. Es komme auch vor, dass sich Kinder von Nazis bei ihr melden und sagen: «Endlich können wir etwas wiedergutmachen.»
Die letzten lebenden Zeitzeugen
Winter rief ihre Stiftung 2014 ins Leben. Sie archiviert Briefe, Berichte von Zeitzeugen und versendet dreimal jährlich zu jüdischen Feiertagen ein kleines Geldgeschenk. Was Anita Winter von den Menschen zurückerhält, die den Zweiten Weltkrieg noch heute in jedem einzelnen Moment emotional spüren, ist berührende Dankbarkeit – und ihre Lebensgeschichten, die in vielen Fällen kaum jemand kennt. Was die zierliche vierfache Mutter aus Baden AG leistet, verdient Respekt.
Es gebe viele, die ihren Kindern, um sie vor dem Schock zu bewahren, nie von den unvorstellbaren Leiden im Konzentrationslager erzählt hätten – und solche, die nie erwähnen, dass sie Juden sind.
Sie sagen nicht, dass sie Folter, Flucht und Vertreibung erlebt haben. Die Armen unter ihnen seien schon lange verstummt: «Sie schämen sich. Und sie haben Panik, registriert zu werden.»
Den Betroffenen in der Schweiz gibt Gamaraal eine Stimme. Anita Winter: «Es sind die letzten lebenden Zeitzeugen. In einigen Jahren werden sie leider nicht mehr unter uns sein.» Das jüngste Holocaust-Opfer in der Schweiz ist 74 Jahre alt.
Es sei für die historische Aufarbeitung von immensem Wert, ihre Geschichten zu hören. Schreiben dieser Menschen, die Winter erhalten hat, übergibt sie nun dem ETH-Archiv für Zeitgeschichte in Zürich.
Das Leid wurde zu wenig beachtet
Die Idee zu Gamaraal sei ihr bei einem Essen mit dem damaligen israelischen Sozialminister Jitzchak Herzog (56) gekommen. Sie habe ihn gefragt, was der jüdische Staat heute anders machen würde als bei der Gründung 1948. «Ein grosses Versäumnis war, dass Israel nach der Staatsgründung das Leid der Schoah-Überlebenden kaum realisiert hatte und lange deren Leid und die Traumata zu wenig beachtete.» Schoah ist der hebräische Begriff für den Judenmord der Nazis.
Winter: «Es darf nie mehr passieren, dass Menschen wegen ihres Glaubens getötet werden. Wäre Hitlers Gedanke der Endlösung aufgegangen, gäbe es mich nicht, meine Kinder nicht und viele wunderbare Menschen nicht.»
Damit stösst sie weit herum auf Interesse, Offenheit, je nach Projekt auch auf finanzielle Hilfe der öffentlichen Hand. Sie spricht viel mit hiesigen Politikern, aber auch mit dem deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck (76), sogar mit dem Papst und dieses Jahr dreimal vor der Uno.
Denn sie hofft, dass ihre Stimme für die Holocaust-Überlebenden laut genug ist, um überall gehört zu werden.