Wie an vielen Orten der Schweiz bedrängen zu viele Hirsche und Rehe auch in Graubünden die Wälder. Der Jungwuchs stirbt ab, weil er angefressen wird. Die Wälder drohen zu überaltern und werden instabil. Im Berggebiet ist das besonders problematisch, haben Wälder dort doch oft eine Schutzfunktion vor Lawinen, Steinschlägen und Erdrutschen.
In Graubünden gelten 60 Prozent der Wälder als Schutzwälder - und sie stehen unter Druck. «Wir haben Zustände, die langfristig nicht tolerierbar sind», sagt der Leiter des Amtes für Wald und Naturgefahren, Kantonsförster Reto Hefti. 21 Prozent des Schutzwaldes hätten Verjüngungsprobleme wegen Verbiss. Die Schutzfunktion des Waldes könnte nachhaltig gestört werden.
Lag im Alpenkanton im Jahr 2000 der Frühlingsbestand der Hirsche bei geschätzten 12'600 Tieren, kletterte die Zahl 2011 auf 14'000 und diesen Frühling auf 16'500. Bei den Rehen, deren Bestände nicht erhoben werden, dürfte die Entwicklung ähnlich sein. Mit dazu beigetragen haben die milden Winter der letzten Jahre.
Eine Ausnahme bildet die Region am Calanda-Massiv zwischen Churer Rheintal und St. Galler Taminatal. Dort bildete sich 2011 das erste Wolfsrudel der Schweiz. Seither nahm die Zahl der Hirsche im Jagdgebiet der Wölfe nach Angaben des Bündner Amts für Jagd und Fischerei um ein geschätztes Drittel ab, während sie im ganzen Kanton um 18 Prozent zunahm.
Bei Reh und Gemse ist auch ein Rückgang da, er bildet sich aber weniger deutlich ab. Insgesamt reisst das etwa zehnköpfige Rudel jedes Jahr an die 300 Hirsche, Rehe und Gämsen.
Die Dezimierung der Wildpopulationen sollte sich nach Ansichten von Forstfachleuten positiv auf die natürliche Verjüngung des Waldes auswirken. Statistisch nachweisen könne man das am Calanda aber noch nicht, sagt Kantonsförster Hefti. Der Wald entwickle sich eben in ganz anderen zeitlichen Dimensionen als Mensch und Tier.
«Der gesunde Menschenverstand sagt allerdings, dass weniger Hirsche weniger Jungbäumchen fressen», meint Hefti. Er gehe davon aus, dass sich ein positiver Einfluss des Wolfs in ein paar Jahren wissenschaftlich bestätigen lassen werde. Bereits bestätigt ist ein solcher Effekt beim Luchs.
Der Schweizerische Forstverein (SFV), der Berufsverband der Forstingenieure, forderte bereits vor fünf Jahren, die natürliche Einwanderung und Ausbreitung des Wolfes zuzulassen. «Wo Luchs und Wolf regelmässig vorkommen, werden weniger Schäden an der Waldverjüngung festgestellt», hielt der SFV 2012 fest.
Diese Position vertritt auch das Bündner Amt für Wald im neuen Waldentwicklungsplan 2018+, der sich in der Vernehmlassung befindet. «Grossraubtiere sind aus forstlicher Sicht willkommen», heisst es darin. Die «Ausbreitung von Grossraubtieren auf noch nicht besetzte Gebiete im Kanton» wird explizit begrüsst.
Erwartet wird eine «massgebliche Entlastung der Wildschadensituation». Positiv auswirken werde sich nicht nur die Verkleinerung der Wildbestände, sondern auch der Einfluss der Wölfe auf die Verteilung des Wildes im Wald.
«Das Wild bewegt sich mehr, steht nicht immer in den gleichen Einständen», erzählt Mattiu Cathomen, Revierförster in Tamins, einem Kernlebensraum des Wolfsrudels. Die Verbissschäden seien deshalb weniger konzentriert.
Cathomen hält den positiven Einfluss des Wolfs bereits jetzt für gegeben. «Wir sehen das schon im Wald», sagt er. Auffallen würden die zahlreichen kleinen Weisstannen im Alter von zwei bis fünf Jahren.
Das habe es in Tamins seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Der Leitbaum des Bündner Waldes sei jeweils als Jährling verbissen worden und eingegangen. Jetzt sei der Wilddruck - nach anfänglichen negativen Effekten - zurückgegangen. «Für den Wald ist das Wolfsrudel sicher positiv», lautet das Fazit von vorderster Front.