Die Angst vor einer Ausbreitung ansteckender Krankheiten wächst. Das zeigt ein internes Protokoll des Bundesamts für Gesundheit (BAG) aus einem Gespräch mit den Kantonsärzten, das SonntagsBlick vorliegt. Der Grund: Die gesamten Kapazitäten des Gesundheitssystems werden derzeit auf die Bekämpfung des Coronavirus ausgelegt.
Insbesondere sexuell übertragbare Krankheiten wie HIV seien in den vergangenen Monaten vernachlässigt worden. Zudem mussten HIV-Zentren teilweise aufgrund personeller Engpässe geschlossen werden – mit Folgen. «Es ist bedenklich, dass wegen Covid für andere Infektionskrankheiten keine Test- und Beratungskapazitäten mehr zur Verfügung stehen. Mittel- und langfristig dürfte eine solche Situation zu gravierenden Problemen führen», heisst es in dem Papier.
Die Sorge der Behörden ist berechtigt. Die Weltgesundheitsorganisation warnte Anfang Dezember in einem Bericht vor einer Ausbreitung des HI-Virus. Corona habe die Versorgungsketten zusammenbrechen lassen, vor allem ärmere Länder erhielten nicht mehr genügend Medikamente. Rund eine Million Menschen weltweit warten auf eine Behandlung. Die Folge, so heisst es im Bericht: «Insgesamt könnte es aufgrund der Corona-Krise 150'000 zusätzliche Todesfälle durch Aids geben.»
Medizinische Versorgung gewährleistet
In der Schweiz ist die medizinische Versorgung gewährleistet; Experten erwarten hierzulande keinen dramatischen Anstieg der Todesfälle.
Allerdings dürfte es vermehrt zu Infektionen kommen, die unentdeckt bleiben. Zahlen des BAG, die SonntagsBlick auf Anfrage erhielt, zeigen nämlich: Während des Lockdowns brach die Anzahl Besuche in den Zentren sexuell übertragbarer Krankheiten um 80 Prozent ein. Ebenso gross ist der Einbruch bei den durchgeführten HIV-Tests.
Infektiologe Huldrych Günthard (59) von der Universität Zürich sagt: «Durch den Rückgang bei den HIV-Tests werden wir möglicherweise einen Teil der Neuansteckungen verpassen.»
Der HIV-Forscher sieht allerdings auch positive Effekte der Corona-Krise. Aufgrund der geltenden Kontakteinschränkungen könnte die Gesamtsumme neuer Ansteckungen kurzfristig einbrechen. «Ersten Prognosen zufolge könnten sich die HIV-Ansteckungen vorübergehend um bis zu 30 Prozent reduzieren», sagt Günthard.
Gefahr der Überkompensation
Dass die Anzahl Neuübertragungen langfristig reduziert wird, glaubt Facharzt Günthard aber nicht: «Ich vermute sogar, dass die Leute nach dem Ende der Einschränkungen durch die Corona-Massnahmen eventuell eine Überkompensation betreiben könnten.»
Dann könnten auch die Ansteckungszahlen wieder zunehmen. Umso wichtiger sei es, das Angebot für die Testung von HIV und für andere sexuell übertragbare Krankheiten wieder in Erinnerung zu rufen, sagt der Forscher.
Die Aids-Hilfe beobachtet die Situation ähnlich. Geschäftsführer Andreas Lehner (53) will daher die Planung der Kampagnen im Frühjahr frühzeitig angehen: «Wir werden uns genau überlegen, auf welche Art von Prävention wir zu welchem Zeitpunkt setzen werden.»