Bondo braucht viel Platz. Auf der Fensterbank. Auf dem Schreibtisch. Auf der Ablage. Überall stapeln sich Dossiers. Ordentlich aneinander gereiht und beschriftet. Seit 2010 ist Anna Giacometti (57) Präsidentin der Grossgemeinde Bregaglia GR. Doch seit dem Bergsturz vom 23. August 2017 dreht sich hier im zweiten Stock des Municipio praktisch alles um den Cengalo.
Anna Giacometti erinnert sich an den Unglückstag: «Ich war schon gegen acht Uhr morgens im Büro. Ich hörte dieses tiefe Grollen aus der Ferne. Als ich die Staubwolke sah, gingen eine Kollegin und ich zur Brücke hinunter. Es war wie im Film.»
«Ich habe nur noch funktioniert»
Die Ampeln des Alarmsystems stehen auf Rot, als die Gemeindepräsidentin eintrifft. «Von da an habe ich nur noch funktioniert», sagt Anna Giacometti. «Und daran hat sich bis heute nichts geändert.» Panik? Schock? Angst? «Dafür hatte ich keine Zeit. Ich kümmerte mich um die jungen Leute, die in der Nähe der Brücke zelteten. Dann fuhren wir nach Bondo rein.» Anna Giacometti hantiert mit zwei Mobiltelefonen gleichzeitig, versucht, die Menschen zu warnen.
Um ca. 10.30 Uhr kommt der erste grosse Murgang nach Bondo. Bis zum 31. August ergiesst sich eine halbe Million Kubikmeter Fels und Schlamm in das Auffangbecken. 147 Menschen werden evakuiert, 99 Gebäude beschädigt. Neun müssen abgerissen werden. Die traurigste Bilanz der Katastrophe: Acht Wanderer werden im Bondascatal unter 30 Meter Geröll begraben (BLICK berichtete).
Die ganze Tragödie lastet auf den Schultern der Gemeindepräsidentin. Das Sitzungszimmer im Rathaus in Promontogno mutiert zur Kommandozentrale. Anna Giacometti übernimmt den Gemeindeführungsstab. Eine Mammut-Aufgabe, die die Mutter zweier Söhne (25 und 28) überrollt wie die Felsmassen des Cengalo das Bondascatal.
Der Medienandrang ist enorm
«Die ersten vier Tage war noch die Kapo zuständig. Dann war der Kanton und ab Mitte September ich dran», sagt Anna Giacometti, «das Rathaus glich einem Ameisenhaufen. Auf allen Etagen bildeten sich provisorische Büros. Im Stundentakt gab es Sitzungen mit den Experten und Einsatzkräften. Feuerwehr, Militär, Tiefbauamt, Wiederaufbau, Sicherheit, Wasser, Strom, Infrastruktur, Zivilschutz, Tourismus, Kommunikation. Alles musste koordiniert werden.» Insgesamt 800 Menschen packen in den ersten Monaten in Bondo mit an.
Der Medienandrang ist enorm. «Ich habe die Interviews nicht gezählt», sagt Anna Giacometti, «es waren Hunderte. Auf Deutsch, Italienisch, Französisch, Englisch.» Die gelernte Kauffrau mit Konsulatserfahrung in Bern, Lissabon und Mailand steht Rede und Antwort in einem Presse-Marathon.
Im Ort nennt man sie «La Madame»
Bis Mitte Dezember bleibt «Zuhause» ein Fremdwort. Dorthin sei sie nur noch zum Schlafen gegangen. «Meine Söhne leben in Zürich, und mein Mann hatte Verständnis», sagt Anna Giacometti.
Leicht sei ihr Job im Rathaus nie gewesen. Als Präsidentin des Regionalverbandes der fünf Bergeller Gemeinden von Promontogno bis Maloja trieb Giacometti die Fusion der Kommunen voran. 2010 übernahm sie die Führung der neuen Grossgemeinde. «Ich bin für Verwaltung und Finanzen zuständig. Und ich bin streng», sagt sie. In dieser Zeit erhält sie ihren Spitznamen: La Madame.
«Ich bin schon ein wenig müde»
Dass «Madame» auch die Ärmel hochkrempeln kann, beweist sie im Katastrophenjahr. Nie sei sie überfordert gewesen, sagt Giacometti. Aber gefordert. «Man entwickelt viel Kraft, wenn man muss. Der Dank ist das Vertrauen der Bewohner.»
Ein wenig müde sei sie, sagt Anna Giacometti, «ich sehne mich nach etwas Normalität. Ich würde gern das Arbeitspensum senken, Zeit mit meiner Familie verbringen, im Garten arbeiten.» Im nächsten Jahr sind wieder Gemeindewahlen. Wird die FDP-Politikerin wieder kandidieren? Das hänge vor allem vom Cengalo ab, sagt sie. Noch einmal so eine Katastrophe, das schaffe sie nicht.