Geahnt haben es alle, bestätigt wurde es gestern Nachmittag, als Einsatzleiter Andrea Mittner erklärte: Die vermissten Wanderer im Val Bondasca GR sind ums Leben gekommen. Die Suche sei am Freitagabend eingestellt worden. Mittner versichert: «Wir haben alle möglichen Mittel eingesetzt.» Aber die Wanderer aus Deutschland und Österreich sowie das frisch verlobte Paar aus Kestenholz SO können nicht gefunden werden.
Vier Tage sind vergangen seit dem Bergsturz, der den Ort Bondo teilweise zerstörte. Die Felsmassen waren vom Piz Cengalo abgebrochen, einem Berg, der sich in den letzten Tagen immer wieder in Wolken hüllte. Als ob er sich zierte zu zeigen, wie er seit der Katastrophe sein Aussehen verändert hat.
Es sind diese Berge und das Licht hier im Bergell, das Maler auf Leinwänden festhalten, das Künstler aller Gattungen inspiriert. Weltbekannt sind die Giacomettis, die Bilder ihrer Heimat in die Welt hinaustrugen – und doch immer wieder hierher zurückkehrten.
Viele können noch nicht zurück
Wie ihnen geht es vielen. Auch Sandro Simonett (62) aus Bondo. Diese Berge vermittelten ihm – trotz allem – ein Gefühl der Geborgenheit. Auch er, der während der Woche in Zürich wohnt, müsse immer wieder hierher zurückkehren. In sein Haus kann aber auch Simonett vorläufig nicht. Zu unberechenbar ist die Situation dort oben am Berg.
Noch immer prägen Giacomettis das Tal: Anna Giacometti (56) ist Gemeindepräsidentin der fusionierten Kommune Bregaglia, zu der auch Bondo gehört. Anders als die berühmten Maler in ihrer Verwandtschaft beschäftigt sie in diesen Tagen nicht die Schönheit ringsumher. Sie hofft schlicht, dass diese Berge bleiben, wo sie immer waren. Denn sie interessiert sich nicht für die Lichtsituation an schroffen Bergwänden, sondern für den Klimawandel und den durch ihn tauenden Permafrost.
Zu wissen, dass im Val Bondasca acht Menschen ums Leben gekommen sind, tue wirklich sehr weh, sagt sie.
Anna Giacometti wirkte gestern sehr erschöpft. Am Donnerstag war Bundespräsidentin Doris Leuthard in Bondo. Sie hat ihr Mut zugesprochen und Unterstützung zugesichert. Der hohe Besuch flog bald wieder davon. Die Gemeindepräsidentin ist geblieben, steht noch immer im Dauereinsatz, fand oft nicht einmal Zeit zum Essen. Sie sagt, dass ihre malenden Vorfahren sich wohl nie hätten vorstellen können, dass diese schöne Bergwelt einmal zu bröckeln beginnt. Doch eigentlich hat Anna Giacometti keine Zeit zurückzuschauen. Sie schaut hoch zum Piz Cengalo. Wie alle hier.
Mario Giovanoli (63) wohnt in Spino, gerade gegenüber von Bondo. Die vergangenen drei Nächte hat er mit seiner Familie im Maiensäss verbracht. Auch sein Haus liegt in der Gefahrenzone.
«Alle weg da unten!»
Am Freitagnachmittag durfte er zurückkehren. Kurz nach vier Uhr stand er frisch geduscht draussen vor dem Haus und war in ein Gespräch mit den Nachbarn vertieft, als Hektik aufkam. Helikopterpiloten meldeten via Funk, was sie im Bondasca-Tal gerade sahen: eine riesige Schlammlawine. «Alle weg da unten!», schrie die Stimme aus dem Funkgerät.
Die Kantonspolizisten an der Kreuzung pfiffen und wedelten dabei mit den Armen. Die Nachbarn beeilten sich, aus der Gefahrenzone zu kommen. Verloren standen sie dann auf der Strasse ausserhalb des Dorfkerns.
Eine der Frauen war gerade am Putzen gewesen, als der Alarm kam. Bäseli und Schüfeli hatte sie noch immer in der Hand. Das Grollen wurde lauter. Statt Wasser kam Schlamm. Die Menschen auf der Strasse wurden still. Helikopter brachten Rettungskräfte aus der Gefahrenzone zurück ins Dorf. Weiter oben zerstörten Geröll und Geschiebe eine Schreinerei. Verletzt wurde niemand.
Während im Val Bondasca acht Menschen ihr Leben verloren, während manchen der Bergsturz die Existenz zerstörte und während viele bang in die Zukunft schauen, rasen Biker mit GoPro-Kameras auf dem Kopf durch die Dörfchen, warten asiatische Touristen im Schatten auf das Postauto und decken sich Wanderer im Dorfladen mit Früchtebrot und Wasser ein. Kaufen kann allerdings nur, wer Bargeld hat, zum Beispiel eine Hunderternote. Auch darauf ist ein Giacometti.
Wann kommt der Rest?
Statt in sein Haus kehrte Mario Giovanoli am Freitagabend mit seiner Familie ins Maiensäss zurück. Gestern fasste er die Ungewissheit, die alle hier beschäftigt, in Worte: «Wann kommt der Rest des Gerölls, und was passiert dann mit uns?»
Ein System aus Beobachtungsposten und Helikopterüberwachung verschafft den Menschen unten im Dorf ein paar Minuten Vorsprung. Zurück in ihre Häuser dürfen viele vorläufig nicht.
Begleitet von Geologen, durften sie gestern aber wichtige Gegenstände vom Parterre in den ersten Stock ihrer Häuser bringen. Bis kurz vor sechs arbeiteten Bagger pausenlos daran, das Auffangbecken rund um Bondo von Geröll und Schlamm freizumachen. Es ist die einzige Möglichkeit, Bondo vor einem erneuten Murgang zu schützen.
Es war die Verletzlichkeit der Menschen, die Alberto Giacometti mit seinen Skulpturen sichtbar machen wollte. Nun werden ausgerechnet die Bewohner seines geliebten Tals von der Natur in einem Ausmass verletzt, das alle ratlos macht.
Adriano Previtali (56), Besitzer des Hotels Bregaglia, sagt spätabends, man sei es hier gewohnt, dass Steine runterkommen – aber doch nicht mit dieser Zerstörungskraft! Er wagt nicht recht daran zu glauben, dass der Berg so bald wieder zur Ruhe kommt.
Kommentar von Reza Rafi, stv. Chefredaktor
Vor einer Weile schon kam ein Film in die Kinos, den man sich erst nach dem Genuss eines Joints antun kann. Der Streifen – Sie erinnern sich vielleicht – heisst «Koyaanisqatsi»: Zu sehen sind hypnotisch ineinander montierte Aufnahmen von Grossstädten, brachialer Technologie und berauschend schöner Natur; untermalt ist das Ganze mit dem hymnischen Sound des Komponisten Philip Glass.
Das Werk ist eine Kritik an der Zivilisation, deren apokalyptische Zerstörungskraft irgendwann auf den Menschen zurückfällt. Den Filmtitel haben die Macher wohlüberlegt: Koyaanisqatsi soll in der Sprache der nordamerikanischen Hopi-Indianer so etwas bedeuten wie «der Mensch aus dem Gleichgewicht».
Die Botschaft des Films mag ein wenig schlicht sein, die politische Aussage möglicherweise allzu plump vermittelt. Doch die aktuellen Aufnahmen des Murgangs von Bondo GR erinnern so sehr an Coppolas Leinwandwerk aus dem Jahr 1982, dass sie sich nahtlos an ihn anzufügen scheinen. Die Katastrophe im Bergell mutet an wie Koyaanisqatsis düstere Fortsetzung. Vier Millionen Tonnen Fels begraben acht Menschen unter sich; der Bergsommer 2017 hat seine Klimatoten.
Am 30. Juli berichtete SonntagsBlick über den auftauenden Permafrost in den Alpen, der das Risiko von Bergstürzen erhöht: «Jetzt bröckeln uns die Alpen weg.» Forscher warnen auch vor schmelzenden Gletschern, die Bergflanken nicht länger stützen können. Dass die vom Menschen verursachte Erderwärmung durch hohen CO2-Ausstoss die Ursache ist, bestreitet kaum ein Wissenschaftler. In Bondo haben sich deren Mahnungen auf bittere Art bestätigt. Die Schweiz erlebt ihren Koyaanisqatsi-Moment.
Kommentar von Reza Rafi, stv. Chefredaktor
Vor einer Weile schon kam ein Film in die Kinos, den man sich erst nach dem Genuss eines Joints antun kann. Der Streifen – Sie erinnern sich vielleicht – heisst «Koyaanisqatsi»: Zu sehen sind hypnotisch ineinander montierte Aufnahmen von Grossstädten, brachialer Technologie und berauschend schöner Natur; untermalt ist das Ganze mit dem hymnischen Sound des Komponisten Philip Glass.
Das Werk ist eine Kritik an der Zivilisation, deren apokalyptische Zerstörungskraft irgendwann auf den Menschen zurückfällt. Den Filmtitel haben die Macher wohlüberlegt: Koyaanisqatsi soll in der Sprache der nordamerikanischen Hopi-Indianer so etwas bedeuten wie «der Mensch aus dem Gleichgewicht».
Die Botschaft des Films mag ein wenig schlicht sein, die politische Aussage möglicherweise allzu plump vermittelt. Doch die aktuellen Aufnahmen des Murgangs von Bondo GR erinnern so sehr an Coppolas Leinwandwerk aus dem Jahr 1982, dass sie sich nahtlos an ihn anzufügen scheinen. Die Katastrophe im Bergell mutet an wie Koyaanisqatsis düstere Fortsetzung. Vier Millionen Tonnen Fels begraben acht Menschen unter sich; der Bergsommer 2017 hat seine Klimatoten.
Am 30. Juli berichtete SonntagsBlick über den auftauenden Permafrost in den Alpen, der das Risiko von Bergstürzen erhöht: «Jetzt bröckeln uns die Alpen weg.» Forscher warnen auch vor schmelzenden Gletschern, die Bergflanken nicht länger stützen können. Dass die vom Menschen verursachte Erderwärmung durch hohen CO2-Ausstoss die Ursache ist, bestreitet kaum ein Wissenschaftler. In Bondo haben sich deren Mahnungen auf bittere Art bestätigt. Die Schweiz erlebt ihren Koyaanisqatsi-Moment.