Das Gosteli-Archiv in Worblaufen BE umfasst Dokumente von 200 Frauenorganisationen sowie Nachlässe von weiteren 200 Frauen der Schweizer Geschichte. Würde man alle Akten aneinanderreihen, wären sie über einen Kilometer lang.
«Wir sind das Gedächtnis der Schweizer Frauenbewegung», erklärt die Leiterin des Archivs, Silvia Bühler. Über 150 Jahre Frauengeschichte lagern hier unter einem Dach. Viele Probleme, mit denen sich Frauen bereits um 1900 beschäftigten, sind heute noch genauso aktuell wie damals: Lohngleichheit, Fürsorgefragen, Gleichberechtigung, Familienplanung. Auch der grosse Frauenstreik vor genau einem Jahr forderte Lösungen dazu.
Gegründet wurde das Archiv im Jahr 1982 von Marthe Gosteli (1917–2017), der Wegbereiterin des Frauenstimmrechts in der Schweiz. «Sie war schon in den 1950er-Jahren an vorderster Front in der Frauenbewegung aktiv», erläutert Archivarin Bühler. «Und im Jahr 1971 präsidierte sie die Arbeitsgemeinschaft der Schweizerischen Frauenverbände für die politischen Rechte der Frau.» Gosteli habe durch ihr Engagement massgeblich zur Annahme des Frauenstimmrechts auf nationaler Ebene beigetragen.
Das Interesse ist gross
Weil Frauen in der Schweiz erst ab 1971 am politischen Geschehen teilnehmen konnten, fehlen in den staatlichen Archiven viele Spuren der Frauenbewegungen aus der Zeit davor. «Dabei reichen die Prozesse, die zum Frauenstimmrecht 1971 geführt haben, natürlich sehr weit zurück», so Bühler. Die Bemühungen der Frauen für mehr Mitsprache und gleiche Rechte seien auch im Alltag zu sehen, in Tagebüchern und Dokumenten lokaler Frauenverbände. «Ohne unser Archiv wären all diese Unterlagen verloren.»
Das Interesse an diesen Unterlagen ist gross. Schülerinnen, Studenten und weitere Interessierte besuchen das Archiv regelmässig, wollen sich mit der Perspektive der Frau auseinandersetzen. Denn: «Frauengeschichte ist immer auch Demokratiegeschichte», so Bühler. «Und die Schweiz war bis 1971 keine vollständige Demokratie.»
«Wir stecken immer noch in diesem Entwicklungsprozess.»
Marthe Gosteli sei es Zeit ihres Lebens wichtig gewesen, in die Geschichte zu blicken, um Lösungen in die Zukunft zu tragen. Denn Probleme lassen sich nicht in kurzer Zeit lösen. «Marthe Gosteli betonte immer, dass man jahrhundertealte Strukturen in der Gesellschaft nicht in einem Jahrzehnt umkrempeln kann.» Bühler weist darauf hin, dass auch heute noch über Vaterschaftsurlaub sowie Vereinbarkeit von Familie und Beruf diskutiert werde. «Wir stecken immer noch in diesem Entwicklungsprozess.»
So wichtig das Archiv für die Schweiz ist, so ungewiss ist seine Zukunft. Denn finanziert wird es samt dazugehöriger Stiftung mit dem noch verbleibenden Vermögen von Marthe Gosteli. Ende 2021 ist dieses aufgebraucht.
Immerhin: Vergangene Woche sprach sich der Nationalrat als Erstrat klar für einen Vorstoss zur Finanzierung aus. l Valentin Rubin