Gibt es Schmetterlinge bald nur noch im Papiliorama?
Das unheimliche Sterben unserer Insekten

Die Zahl der kleinen Kerbtiere nimmt rapide ab. Auch in der Schweiz. Fachleute sind besorgt. Denn die Folgen könnten katastrophal sein.
Publiziert: 29.10.2017 um 22:00 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 11:45 Uhr
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Das Netz des Insektenkundler Hannes Baur (51) aus Bremgarten bei Bern blieb auch schon leer.
Foto: Peter Mosimann
Aline Wüst

Hannes Baur (51) liebt Insekten. Besonders gern hat er die Erzwespe. Deshalb steht er immer wieder auf der Wiese. Mit einem Netz fängt er die kleinen Viecher. Denn er sammelt, bestimmt und erforscht sie. Weltweit gibt es bloss noch eine Handvoll Forscher, die sich wie Baur mit dem kleinen Insekt auskennen. Demgegenüber gibt es 25’000 Erzwespen-Arten. Baur weiss also längst nicht alles über das Tier. Klar ist bloss: Jede Art hat eine Funktion im Ökosystem. Wie alle Insektenarten auf der Welt. Es sind mehrere Millionen.

Eine Abnahme von 76 Prozent

Im Zusammenhang mit der Erzwespe erinnert sich Hannes Baur an einen denkwürdigen Tag. Es war vor vier Jahren, als er auf genau dieser Wiese in seinem Wohnort Bremgarten bei Bern stand. Er streifte mit seinem Netz übers Gras. Das Netz aber blieb leer. Als Fachmann weiss er, dass es in Insektenpopulationen zu Schwankungen kommt. Ein strenger Winter beispielsweise kann schuld sein. Dass aber gar nichts im Netz war, machte ihn stutzig. Er fragte sich: «Was ist hier los?»

Das fragten sich auch Entomologen aus dem niederrheinischen Krefeld. Die Datenauswertung ihrer Forschung wurde vergangene Woche publiziert und sorgte weltweit für Furore. Die deutschen Insektenkundler taten etwas Sim­ples. Sie stellten in einem Naturschutzgebiet Fallen auf und wogen die Beute. Das Resultat 2013: Knapp 300 Gramm. 1989 waren es noch 1,4 Kilogramm. Unter dem Strich ist eine Abnahme von 76 Prozent belegt. «Alarmierend», sei die Studie, heisst es beim Bundesamt für Umwelt in Bern. Ähnliche Tendenzen seien in der Schweiz erkennbar. Was es für uns Menschen bedeutet, wenn die Insekten verschwinden, weiss niemand so genau. Hannes Baur, Kurator der Insektensammlung des Naturhistorischen Museums Bern: «Wenn Insektengruppen im grossen Stil wegbrechen, hat das Folgen für das ganze Ökosystem.»

Es gibt Horrorszenarien. Zum Beispiel, dass sich Gemüse und Früchte irgendwann nur noch die Reichen leisten können. Drei Viertel aller Nahrungspflanzen werden von Bienen und anderen Insekten bestäubt. Fallen sie weg, muss von Hand bestäubt werden.

40 Prozent aller Insekten gelten in der Schweiz als bedroht

Um zu sehen, wie es um die Insekten hierzulande steht, genügt ein Blick in die Roten Listen des Bundes: 40 Prozent aller Insekten gelten in der Schweiz als bedroht. 136 Arten sind bereits ausgestorben. Wer sie sich trotzdem noch anschauen will, muss in einen kühlen Raum, einmal die Treppe runter: in die Entomologische Sammlung der ETH Zürich. Zwei Millionen tote Insekten lagern hier – fein säuberlich beschriftet. Umweltwissenschaftler Michael Greeff (41), der in der Sammlung arbeitet, sagt: «Wenn einzelne seltene Arten aussterben, ist das schlimm. Wir merken im Moment aber meist nichts davon. Grosse Auswirkungen hat es, wenn die gesamte Anzahl der Insekten abnimmt.» Unter anderem, weil Vögel dann nicht genug Futter finden.

Auch das Trauerwidderchen findet sich hier, präpariert in einem Schaukasten. Ein hübscher, rötlicher Schmetterling. In der Schweiz ist er allerdings schon länger nicht mehr zu finden – die Art gilt hier als ausgestorben.

Dass es weniger Schmetterlinge gibt, zeigt sich auch dort, wo Hunderte flattern: Im Papiliorama in Kerzers FR. Und zwar im Gästebuch. Immer öfter schreiben Eltern, dass sie hergekommen seien, um ihren Kindern Schmetterlinge zu zeigen, die sie draussen kaum mehr sähen. Als Gründer des Papilioramas schmerzt das Maarten Bijleveld van Lexmond sehr: «Geht es so weiter, ist die Katastrophe in absehbarer Zeit da.» Die Menschen seien sich nicht bewusst, was in der Natur gerade passiert: «Die Insekten sterben leise und unbemerkt.»

Synthetische Pestizide der Hauptgrund für das Verschwinden der Insekten

Für dieses Sterben gibt es Gründe. Sicher setzen der Verlust und die Veränderung der Lebensräume den Insekten zu. Besonders im Fokus steht aber die Landwirtschaft. Genauer: der massenhafte Einsatz von Pestiziden.

Für den Wissenschaftler und Naturschützer Bijleveld sind synthetische Pestizide der Hauptgrund für das Verschwinden der Insekten. Zur Gruppe dieser Pflanzenschutzmittel, die immer wieder für Schlagzeilen sorgen, gehören auch die Neonikotinoide.

Mit einem internationalen Team von Wissenschaftlern hat Bijleveld 2015 sämtliche 1127 Studien zu Neonikotinoiden ausgewertet. Sein Ergebnis: «Sie töten nicht nur Insekten. Sie töten alles. Die einzige Lösung ist es, den Gifthahn zu schliessen.» Aktuell werden in der Schweiz für zwei Volksinitiativen Unterschriften gesammelt, die den Gebrauch von synthetischen Pflanzenschutzmitteln verbieten wollen.

Es ist ein Kampf um viel Geld. Rund 9,6 Milliarden Franken verdient allein der Schweizer Agro­konzern Syngenta jährlich weltweit mit Pflanzenschutzmitteln. Die Nutzung von Neonikotinoiden wird zurzeit durch ein ­Moratorium in der EU und der Schweiz stark eingeschränkt. Ende Jahr läuft es aus. Zurzeit kämpft Syngenta vor einem EU-Gericht dafür, dass diese Pestizide nicht vollständig verboten werden. Eine Syngenta-Sprecherin sagt, dass die Gesundheit von Insekten und insbesondere der Bienen von vielen anderen Faktoren beeinflusst werde und pocht darauf, dass die Schädlichkeit dieser Pflanzen-schutzmittel nicht bewiesen sei.

Bis alle Faktoren für das Insektensterben wissenschaftlich bewiesen sind, können Jahrzehnte vergehen. Dann könnte es für Erzwespe und Co. bereits zu spät sein. Insektenforscher Baur sorgt sich, weil seine grosse Leidenschaft bedroht ist. Vor allem aber, weil er nicht weiss, welche Auswirkungen das Sterben auf das Ökosystem haben wird. Für ihn ist klar: «Wollen wir die Kehrtwende schaffen, müssen die Politiker Gas geben.»

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