Kurz vor Mitternacht eskalierte die Situation in der Zürcher Innenstadt. Vermummte griffen Beamte mit Pflastersteinen und Knallpetarden an. In einen Streifenwagen warfen sie eine brennende Fackel. Der Mob ausser Rand und Band: Bei den Krawallen vom 12. Dezember 2014 hat die Gewalt gegen Polizisten in der Schweiz eine neue Dimension erreicht.
Polizisten als Prügelknaben: Laut Kriminalstatistik des Bundesamtes für Polizei werden jährlich bis zu 3000 Beamte bedroht, beschimpft oder tätlich angegriffen. Die Zahl hat sich in den vergangenen 15 Jahren verdreifacht. Die Zahl der Polizisten, die im Dienst verletzt werden, steigt stetig. 52 Beamte der Stadtpolizei Zürich wurden allein im letzten Jahr Opfer von Gewalt – sieben mehr als 2013.
Erstmals sprechen jetzt drei Polizisten, die am 12. Dezember im Einsatz standen. «So etwas haben wir noch nie erlebt», sagen sie im Gespräch mit SonntagsBlick. «Wir fürchteten um unser Leben. Die Eskalation der Gewalt war kaum zu stoppen.»
Claudia B.* (38) und Stefan M.* (29) sassen im Streifenwagen, der von den Chaoten angegriffen wurde. «Eine Meute stürzte sich auf uns und unser Auto», erinnert sie sich. «Sie rissen die Tür auf, einer warf eine brennende Petarde ins Auto.»
Das Feuer war 2000 Grad heiss! Der Rücksitz fing Feuer. «Überall war Rauch», sagt sie. «Dann flog ein grosser Stein durch die offene Tür.» Ausserdem warfen die Chaoten eine Feuerwerksrakete gegen das Auto. Sie prallte ab. Stefan M. gelingt es, die brennende Petarde aus dem Fahrzeug zu werfen. «Nur darum wurden wir nicht schwer verletzt», sagt Claudia B. «Der Angriff hätte auch tödlich enden können.»
Ein Kollege lenkt das Auto aus der Gefahrenzone: «Wir waren eingekesselt und wussten nicht, wie wir uns befreien sollten», erinnert sich Stefan M. «Es ging alles so schnell.» Die Polizisten überlegten: Sollen sie ihre Schusswaffe einsetzen? Wie können sie sich befreien? «Es geht einem so viel durch den Kopf, wenn man um sein Leben fürchtet», sagt Claudia B. «Es war eine totale Grenzsituation.»
Direkt nach den Krawallen nahm die Polizei vier Männer fest: zwei Schweizer, einen Engländer und einen Liechtensteiner. Die Staatsanwaltschaft Zürich ermittelt wegen versuchter Tötung und hat eine Belohnung von 10000 Franken ausgesetzt.
«Einige der Chaoten hatten es offenbar direkt auf unser Leben abgesehen. Sie wollten uns verletzen oder sogar töten», sagt Andreas P. (38). Er verteidigte die Polizeiwache Aussersihl gegen die Angreifer. «Es klöpfte und tätschte, die Fassade des Gebäudes rüttelte, die Fensterläden vibrierten.»
Steine, Petarden, Fackeln, Pyros flogen gegen und in das Gebäude.
Der Angriff hat Andreas P.* sehr nachdenklich gemacht. Er und drei weitere Kollegen erlitten ein Knalltrauma, verursacht durch eine Petarde. Eine Kollege muss mit einem bleibenden Hörschaden leben.
Die Gewalt gegen Beamte wird immer massiver. Nicht nur in Zürich werden Polizisten bedroht, bespuckt und angegriffen. Überall in der Schweiz gehört Gewalt gegen Polizisten zum Alltag.
Vor einer Woche fuhr ein Taxichauffeur im Tessin einen Polizisten an – er wollte nicht kontrolliert werden. In Bern griffen Unbekannte Ende Februar eine Polizeiwache an, ein Beamter wurde verletzt.
Die Angreifer kommen meist mit leichten Strafen davon. Erst am Donnerstag wurde ein Mann, der im August 2012 in Worblaufen BE einen Polizisten an den Kopf getreten hatte, zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten und einer Geldstrafe von 5400 Franken verurteilt. Der Polizeiverband kritisierte das Urteil als «skandalös».
«Ich wünsche mir, dass die Justiz den gegebenen Strafrahmen konsequenter ausnützt», sagt Marco Cortesi, Medienchef der Stadtpolizei Zürich. «Bedingte Geldstrafen schrecken offenbar nicht ab, sie sind für gewisse Chaoten eher eine Art Auszeichnung.»
Cortesi stellt klar: «Wir tolerieren nicht, dass unsere Mitarbeiter angepöbelt und angegriffen werden.» Er begrüsse deshalb ein Urteil des Bezirksgerichts Zürich, das einen Steinwerfer zu einer teilbedingten Gefängnisstrafe von zwei Jahren und elf Monaten verurteilt hat. Er muss für sechs Monate hinter Gitter.
Auch die drei Zürcher Beamten hoffen, dass die Chaoten vom 12. Dezember zur Rechenschaft gezogen werden. Sie stehen wieder im Dienst, sind aber seit dem 12. Dezember vorsichtiger geworden.
«Ich bin erstaunt, wie ruhig wir geblieben sind», sagt Andreas P. «Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn wir geschossen hätten oder in Panik geraten wären. Es ist nicht auszuschliessen, dass in so einer Situation ein Polizist seine Schusswaffe einsetzt.»
*Namen der Redaktion bekannt
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