Für die «Weltwoche» ist er der «altmarxistische Zürcher Starhistoriker». Die linke «Wochenzeitung» wirft die Frage auf, ob dieser Geschichtsprofessor im Laufe eines Forscherlebens nicht «vom Dissidenten zum Staatshistoriker» mutiert sei.
Und für die NZZ ist er «Professor Rastlos», der sich seit Jahrzehnten am «Mythos Sonderfall Schweiz» abarbeitet. Jetzt hat der kürzlich emeritierte Gelehrte ein Buch herausgegeben, das umfassenden Deutungsanspruch verrät: «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert».
Jakob Tanner, der 1950 Geborene, ist selber Teil dieser «Revolten und Krisen», über die er schreibt, und einer, der eben «keine eindimensionale Geschichte einer sich selbst erfindenden Willensnation» Schweiz erzählen will, wie er sagt. Er zielt auf das Transnationale, welches Nationen und Gesellschaften formt und ist mit diesem Anspruch in guter Gesellschaft mit den Mythenzerstörern, die nach dem Kalten Krieg die Deutungshoheit über die jüngere Schweizer Geschichte erringen wollen.
Fast selbstgefällig wirken die Worte: «Nach innen» habe die Schweiz «den neuzeitlichen Idealstaat auf dem Grundsatze der geordneten Freiheit» aufgebaut – Worte, die von Tanners Berufskollegen, ETH-Professor Paul Seippel zu Papier gebracht worden sind. Anno 1900 wars.
Damals wie heute gibt es also diese Kreise, die sich im besten aller Staatswesen wähnen. Derselbe Seippel beklagt aber auch die «Verheerungen» und «Verstümmelungen» der Moderne und ihres «Gewerbesinns», wie Tanner schreibt. Globalisierungskritik in der Belle Époque, ähnlich der Kritik derer, die heute den Einbruch des Internationalen in die schweizerische Beschaulichkeit nach dem Zusammenbruch des Kommunismus beklagen.
Zwischen diesem ersten und dem zweiten Globalisierungsschub des 20. Jahrhunderts mäandert die Schweiz im Urteil Tanners zwischen Fortschrittsglaube und dem Gefühl der Bedrohung, zwischen Konflikten im Innern und offener Wirtschaft sowie einem gewissen Widerwillen, den Schritt in die Moderne zu tun, als dies gesellschafts- und wirtschaftspolitische Umwälzungen einfordern.
Als Melange resultiert daraus eine «ambivalente Moderne», die im Zweifelsfall immer wieder ins Nationale kippt – etwa unter der Bedrohungslage des Zweiten Weltkriegs, als der Nationalstaat Schweiz gewissermassen neu erfunden worden ist.
Diesem Sog kann sich im Urteil Tanners nicht einmal die traditionell internationalistisch orientierte Arbeiterschaft entziehen. Der Arbeitsfrieden mit den Gewerkschaften erscheint so als Zugeständnis an das Nationale und keineswegs als Ausfluss selbstbewusster Interessenwahrung durch die Arbeiterschaft. Hier argumentiert der Historiker eher ideologisch denn faktisch.
Und selbst die gesellschaftspolitische Öffnung im Nachgang der 68er-Bewegung – ein Kind derer Tanner auch selber ist – erscheint in seiner Analyse nur als Vorbote eines neuen Renationalisierungsschubs.
In den 1980er-Jahren sieht Tanner dann die «Krise des nationalen Territorialitätsprinzips» als Folge eines «neuen Globalisierungsschubs» heraufziehen. Die Schweiz reagiert zunächst pragmatisch, sucht «Mitbestimmungs- und Gestaltungschancen in internationalen Gremien».
Etwa durch den Beitritt zu den Wechselkurs-Institutionen von Bretton Woods 1992. «Dieser Wille, nationalstaatliche Souveränität durch suprastaatliche Kooperation auszuüben, wich allerdings rasch einem Rückzugsverhalten», urteilt Tanner, und dieses Réduit ist das Nationale.
Das Fazit: «Die Schweiz vermochte das Wegbrechen der orientierungsstiftenden Bedrohungskonstellation des Kalten Krieges nicht zu verkraften und begann, an einem historischen Phantomschmerz zu leiden.» Was Tanner nicht schreibt, aber möglicherweise denkt: Das Leiden ist nicht vorbei. Und ein Ende nicht in Sicht.