BLICK: In Como stranden tagtäglich Flüchtlinge. Viele sind blutjung. Was passiert da an der Schweizer Grenze?
Paolo Rozera: In Como haben wir zurzeit zwischen 500 und 700 Flüchtlinge. Gut 15 Prozent sind unter 18 Jahre alt und unbegleitet. Man muss die Lage unter Kontrolle bringen.
Viele versuchen immer wieder in die Schweiz zu gelangen, werden aber von der Tessiner Grenzwacht zurück nach Italien geschickt. Ist das vereinbar mit der Uno-Kinderrechtskonvention?
Natürlich hat ein Flüchtlingskind die gleichen Rechte wie jedes andere Kind in Europa. Eigentlich müsste jedem Minderjährigen Schule und Betreuung garantiert werden.
Ist die Schweiz kaltherzig?
Ich möchte die Schweiz nicht verurteilen. Es gibt die Kinderrechte, und es gibt das Übereinkommen von Dublin. Demnach gilt das Recht auf Asyl nur im EU-Ankunftsland. Also in Italien. Hier ist die EU gefragt. Sie darf Italien und die Schweiz nicht alleine lassen.
Im Augenblick scheinen sich aber die EU-Länder eher vor Flüchtlingen abzukapseln.
Wer sich einigelt, denkt nicht an die Zukunft. Man sollte die Möglichkeiten sehen, die Flüchtlinge bieten. In Brescia etwa arbeiten viele in Fabriken. Das sind Jobs, die macht kein Italiener mehr.
Warum behält Italien die Kids von Como nicht?
Das haben wir vor. Die Kinder sollen auf die Gemeinden Como, Mantova, Novara, Alba und Monfalcone verteilt werden. Und wir möchten sie in Strukturen und Familien unterbringen. Das Problem ist, dass viele der Minderjährigen glauben, in Nordeuropa eine bessere Zukunft zu haben als bei uns. Sie wandern weiter – oder versuchen es zumindest.
Welche Erfahrungen haben Sie mit den Minderjährigen gemacht?
Wir haben seit einem Jahr etwa 200'000 Flüchtlinge in Italien aufgenommen, 20'000 sind unbegleitete Minderjährige. Davon verschwanden knapp über 5000. Die meisten von ihnen versuchen, sich entweder zu ihren Familien oder in die entsprechenden Communitys in Deutschland und anderen europäischen Ländern durchzuschlagen. Besonders gut organisiert sind die Eritreer und Somalier. Doch es gibt auch Kinder, die Verbrechen zum Opfer fallen.
Welche Gefahren lauern auf die unbegleiteten Minderjährigen?
Sie sind vollkommen schutzlos und ausgeliefert. Sie kennen das Land nicht, durch das sie reisen, und nicht die Sprache. Da können diese Kinder schnell in Zwangsprostitution, Sklavenarbeit, Drogenhandel und Schlimmeres geraten.
Was meinen Sie mit Schlimmeres?
Organhandel. Im Juli wurde in Rom ein Menschenhändler-Ring ausgehoben, der auch Flüchtlinge an Organhändler verkaufte.
Manche Politiker fordern, die Flüchtlinge heimzuschicken.
Mit solchen Äusserungen wird nur Politik gemacht. Man kann die wenigsten, schon gar nicht die Kinder, in die Heimatländer zurückschicken. Sie müssen integriert werden, Sprache und Sitten lernen. Sonst geraten sie auf die schiefe Bahn. Dann werden sie zum grösseren sozialen Problem.