Gemeinden versuchen mit allen Mitteln, Neuzuzüger anzulocken – die Rechnung geht nicht auf
Die grosse Wachstums-Illusion

In vielen Dörfern und Städten ist man überzeugt: Nur Wachstum garantiert Wohlstand. Dabei handelt es sich bei dieser Formel um einen Irrtum. In den Gemeinden Emmen LU, Köniz BE oder Oensingen SO etwa hat das Wachstum tiefe Finanzlöcher hinterlassen.
Publiziert: 19.01.2019 um 00:17 Uhr
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Aktualisiert: 20.01.2019 um 13:12 Uhr
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Anti-Wachstums-Initiant Markus Schumacher in Emmen LU. «Dass mehr Neuzuzüger auch höhere Steuereinnahmen generieren, erweist sich als Irrtum», so Schumacher.
Foto: Siggi Bucher
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Flavio Paolo RazzinoNachrichtenchef

Es klingt so einleuchtend: Kann ein Dorf viele Neuzuzüger anlocken, winken höhere Steuereinnahmen. Die Finanzlage verbessert sich. Am Ende, so das Heilsversprechen, können die Steuern für alle gesenkt werden. Kurz: Wachstum gleich Wohlstand für alle!

Eine glatte Illusion

Diese Formel wird in Gemeinden dann gebraucht, wenn unpopuläre Entscheidungen anstehen. Wenn grüne Wiesen an schönen Lagen verbaut werden sollen. Oder wuchtige Hochhaus-Projekte in Ortszentren. Denn: Nur wenn eine Gemeinde neuen Wohnraum ermöglicht, kann sie wachsen.

Heute zeigt sich jedoch: Bei der Formel handelt es sich um eine Wachstums-Illusion. Davon können Einwohner von Gemeinden wie etwa Emmen LU, Oensingen SO oder Köniz BE ein Lied singen.

Diese Gemeinden sind heute nach einem gewollten und forcierten Wachstum in den letzten 15 Jahren verschuldet, haben kaum noch Geld für dringende Investitionen in die Infrastruktur, und teilweise mussten sie gar die Steuern erhöhen.

Die Bevölkerungsexplosion kam, der Wohlstand nicht

Eine besonders aggressive Wachstumsstrategie verfolgte etwa Emmen LU. 2004 machte die Gemeinde von sich mit einem Lockangebot für Neuzuzüger reden. Bringt ein Emmer einen Neuzuzüger in die Luzerner Gemeinde, der mindestens 10'000 Franken Steuern zahlen muss, dann wird ihm bis zu 40 Prozent des Steuerertrags des Zuzügers von seinen eigenen Steuern abgezogen.

Die Folge: Emmen LU wuchs zwischen 2004 und 2018 um rund 3800 Einwohner. Neue Wohnhäuser wurden aus dem Boden gestampft.

MEI auf Gemeindeebene

Bloss: Mit der Bevölkerungsexplosion kam nicht der Wohlstand, sondern die Geldnot. Die Erschliessung neuer Dorfteile kostete Hunderttausende Franken, und bald platzten auch die Schulhäuser aus allen Nähten. Millionenteure Neubauten wurden nötig. Die Wachstumseuphorie von früher ist in Emmen heute längst verflogen. Der Kanton hat der Gemeinde auf Januar 2019 sogar eine Steuerfusserhöhung aufgezwungen.

Und die Emmer SVP macht nun Schlagzeilen, weil sie eine Masseneinwanderungs-Initiative auf Gemeindeebene durchsetzen will. «Emmen verträgt nicht noch mehr Wachstum! Wir möchten es auf 0,7 Prozent pro Jahr begrenzen», sagt der SVP-Fraktionschef im Emmer Gemeindeparlament, Markus Schumacher, zu BLICK.

Man sei überrascht worden von den negativen Folgen des Bevölkerungswachstums. «Emmen ist zu schnell gewachsen, und man hatte die Folgekosten nicht auf dem Schirm. Jetzt müssen wir hier Gegensteuer geben.» Dass mehr Einwohner auch höhere Steuereinnahmen generieren, erweise sich als Irrtum, sagt Schumacher. «Darum müssen wir jetzt reagieren!» Über die Initiative wird im Jahr 2019 abgestimmt.

«Können uns nicht auf Finanzausgleich des Kantons verlassen»
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Anti-Wachstums-Initiant:«Können uns nicht auf Finanzausgleich des Kantons verlassen»

 «Wachstum generiert auch Kosten»

Auch der Berner Vorort Köniz will grösser werden. Und auch hier wird die Wachstumslüge bemüht. «Wir erhoffen uns natürlich auch, dass durch das Wachstum die Steuereinnahmen steigen», sagt etwa Gemeindepräsidentin Annemarie Berlinger zu BLICK. Dabei hat die Gemeinde bereits in der Vergangenheit alles getan, um zu wachsen.

4000 Einwohner mehr zählt Köniz heute im Vergleich zu 2004. Wohlstand für alle deswegen? Weit gefehlt! Seit sechs Jahren schreibt die Gemeinde tiefrote Zahlen. Berlinger: «Früher wurde wohl zu wenig in Betracht gezogen, dass Wachstum auch Kosten generiert», sagt sie. Zudem spiegle sich das Wachstum bislang nicht bei den Steuereinnahmen wieder. Sie hofft aber darauf, dass sich hier das Blatt noch wendet.

Weil die Finanzlage in Köniz desolat ist, droht auch hier eine Steuerfusserhöhung. «Wir hoffen, das Volk gibt uns dazu grünes Licht», sagt Berlinger. Zudem sollen «freiwillige Leistungen der Gemeinde» heruntergefahren werden, wie der Gemeinderat im Dezember informierte.

«Mehr Zuzüger bedeuten auch mehr Steuereinnahmen»

Noch voll in der Wachstums-Euphorie ist indes Fabian Gloor – der junge Gemeindepräsident von Oensingen SO. «Wir möchten wachsen und werden aufgrund unserer attraktiven Lage auch weiter wachsen», ist er sich sicher. Das habe am Ende auch finanziell positive Auswirkungen. «Mehr Zuzüger bedeuten am Ende auch ausgebaute Grundangebote in vielen Bereichen und höhere Steuereinnahmen», ist Gloor überzeugt.

Bloss: Zwischen 2004 und 2017 ist Oensingen bereits um 1800 Einwohner oder gut einem Drittel seiner ursprünglichen Grösse gewachsen. Doch die Einwohner müssen das heute teuer bezahlen.

«Gemeinden müssten ehrlich sein»

Gemeinden, die wachsen wollen, um ihre Finanzen zu sanieren, drohen in eine Falle zu laufen. Davor warnt Christoph Schaltegger, Professor für Gemeindeökonomie an der Universität Luzern. «Wenn eine Gemeinde Wachstum will, muss sie ihren Bürgern offen und ehrlich sagen, dass Wachstum am Ende Geld kostet – und nur in seltenen Fällen dazu führt, dass ein Gewinn für alle dabei rausschaut», sagt er. 

«Mehr Einwohner brauchen mehr Infrastruktur. Etwa neue Schulräume, neue Turnhallen, neue Sportplätze, grössere Alters- und Pflegeheime», erklärt Schaltegger. Die dabei anfallenden Kosten könnten häufig nicht mit den steigenden Steuereinnahmen gedeckt werden.

Auch er kennt die Wachstums-Illusion, die in Gemeinden verbreitet wird, um Bürger auf Spur zu bringen. «Die Formel ‹Mehr Wachstum = mehr Geld in der Gemeindekasse = Steuern runter für alle› wurde in der Vergangenheit häufig genannt, um bei der Bevölkerung Rückhalt für die Wachstumsstrategie zu sichern», sagt er. Heute zeige sich aber: «Die Formel stimmt so nur in ganz seltenen Fällen.»

Wachstum könne aber trotz hoher Kosten sinnvoll sein, «vor allem dann, wenn eine Gemeinde in der Vergangenheit geschrumpft ist und die vorhandene Infrastruktur nicht ausgelastet ist», so Schaltegger.

Gemeinden, die wachsen wollen, um ihre Finanzen zu sanieren, drohen in eine Falle zu laufen. Davor warnt Christoph Schaltegger, Professor für Gemeindeökonomie an der Universität Luzern. «Wenn eine Gemeinde Wachstum will, muss sie ihren Bürgern offen und ehrlich sagen, dass Wachstum am Ende Geld kostet – und nur in seltenen Fällen dazu führt, dass ein Gewinn für alle dabei rausschaut», sagt er. 

«Mehr Einwohner brauchen mehr Infrastruktur. Etwa neue Schulräume, neue Turnhallen, neue Sportplätze, grössere Alters- und Pflegeheime», erklärt Schaltegger. Die dabei anfallenden Kosten könnten häufig nicht mit den steigenden Steuereinnahmen gedeckt werden.

Auch er kennt die Wachstums-Illusion, die in Gemeinden verbreitet wird, um Bürger auf Spur zu bringen. «Die Formel ‹Mehr Wachstum = mehr Geld in der Gemeindekasse = Steuern runter für alle› wurde in der Vergangenheit häufig genannt, um bei der Bevölkerung Rückhalt für die Wachstumsstrategie zu sichern», sagt er. Heute zeige sich aber: «Die Formel stimmt so nur in ganz seltenen Fällen.»

Wachstum könne aber trotz hoher Kosten sinnvoll sein, «vor allem dann, wenn eine Gemeinde in der Vergangenheit geschrumpft ist und die vorhandene Infrastruktur nicht ausgelastet ist», so Schaltegger.

Personal musste entlassen werden

Denn in Oensingen zeigen sich die Folgen der Wachstumslüge ganz brutal: Die Gemeinde ist so klamm, dass sie Anfang Jahr gar Personal bei der Gemeindeverwaltung entlassen musste. Neue Schulhäuser, Strassen und weitere Infrastrukturprojekte haben tiefe Löcher in die Gemeindekasse gerissen. Zudem muss der Service public aus Geldmangel zurückgefahren werden.

«Das ist aber nicht alleine auf das Wachstum zurückzuführen», glaubt Gemeindepräsident Gloor. Zahlreiche Investitionen wären auch ohne Wachstum nötig geworden und hätten die Gemeindekasse belastet.

Dennoch: Lag der Steuerfuss in Oensingen 2005 bei 95 Prozent, liegt er heute bei 111 Prozent. Vergangenes Jahr hätte er wegen Geldmangel gar auf 115 Prozent angehoben werden sollen. Die Gemeindeversammlung lehnte das jedoch ab.

«Oensingen ist kaum mehr wiederzuerkennen»

Das Wachstum sorgt aber auch für einen Identitätsverlust. Davon ist Kuno Blaser, pensionierter Lehrer und Dorfchronist aus Oensingen, überzeugt. «Oensingen etwa ist kaum mehr wiederzuerkennen. Viele alte Häuser wurden abgerissen und durch gesichts- und geschichtslose Gebäude ersetzt», sagt Blaser. Auf eine Art und Weise, um möglichst viel Profit pro Quadratmeter Bauland herausholen zu können.

Das Resultat: Man fühle sich im eigenen Dorf kaum mehr zu Hause. «Ich setze mich darum dafür ein, dass die Gemeinde dort, wo sie kann, das Wachstum bremst», sagt Blaser. Und geschichtsträchtige sowie identitätsstiftende Liegenschaften schützt.

Westschweizer Gemeinden sind am stärksten gewachsen

In der Rangliste der am meisten gewachsenen Gemeinden zwischen 2004 und 2017 rangieren auf den vorderen Plätzen vor allem solche aus der französischen Schweiz.

So ist die Gemeinde Chavannes-des-Bois im Kanton Waadt in den Jahren 2004 bis 2017 um über 120 Prozent gewachsen. Zählte die Gemeinde 2004 noch 425 Einwohner, waren es 2017 bereits 962 Einwohner.

Weiach ZH liegt im Ranking auf Platz 5. Damit ist sie die Gemeinde in der Deutschschweiz, die am stärksten gewachsen ist – seit 2004 um knapp 78 Prozent. Dicht gefolgt von der Gemeinde Hüttikon ZH, welche um 74,2 Prozent gewachsen ist.

Im gleichen Zeitraum sind aber auch Gemeinden kleiner geworden. Am stärksten die Gemeinde Zwischbergen VS, zu der auch Gondo gehört. Die Gemeinde ist seit 2004 um 40,3 Prozent geschrumpft – sie zählt heute noch 77 Einwohner. (fr)

In der Rangliste der am meisten gewachsenen Gemeinden zwischen 2004 und 2017 rangieren auf den vorderen Plätzen vor allem solche aus der französischen Schweiz.

So ist die Gemeinde Chavannes-des-Bois im Kanton Waadt in den Jahren 2004 bis 2017 um über 120 Prozent gewachsen. Zählte die Gemeinde 2004 noch 425 Einwohner, waren es 2017 bereits 962 Einwohner.

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