Gedanken zum 1. August
Zeigen wir uns allen!

Es ist nicht gut, wenn sich die Schweiz abschottet und sich selber genügt. Sie muss in den Wettbewerb mit der Welt treten – so wie die Mountainbikerinnen an den Olympischen Spielen in Tokio.
Publiziert: 31.07.2021 um 18:06 Uhr
Daniel Arnet ist Autor beim SonntagsBlick Magazin.
Foto: Thomas Meier
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Daniel ArnetRedaktor Gesellschaft / Magazin

Heute hänge ich keine Lampions mit Schweizerkreuz auf den Balkon – wenn schon, dann lieber solche mit Sonnenmotiv. Das Schweizer Multifunktionsmesser trage ich nie im Hosensack rum. Und bei Auslandsreisen stecke ich den Schweizer Pass nicht als Pochette-Ersatz in die Brusttasche.

Und trotzdem erfüllt mich diese Woche Nationalstolz: Gerührt stehe ich vor dem Fernseher, schaue der Medaillenverleihung an unsere drei Mountainbikerinnen bei den Olympischen Spielen in Tokio zu; und angesichts der von Gefühlen geschüttelten Jolanda Neff (28) verdrücke ich bei der Nationalhymne eine Träne.

«Wir haben es allen gezeigt!», denke ich – etwas verschämt, denn der Gedanke ist so unschweizerisch unbescheiden. Aber darum geht es ja gerade: Es allen zu zeigen! Wir müssen die Schweiz in die Welt hinaustragen und sie allen präsentieren. Der Dreifachsieg der Schweizerinnen gewinnt erst durch Olympia an Bedeutung.

Oder wären wir etwa gleich stolz auf Roger Federer (39), wenn er statt der 20 internationalen Grand-Slam-Titel genauso häufig auf nationaler Ebene reüssiert hätte? Zumindest spräche dann im Ausland kaum jemand über ihn, und US-Autor David Foster Wallace (1962–2008) hätte nie eine Huldigung auf den Tennisstar für die «New York Times» geschrieben.

Die Schweiz und das Ausland – das ist eine wechselvolle und schwierige Beziehung: Auf der einen Seite meidet sie es wie der Teufel das Weihwasser, auf der anderen Seite braucht sie es hinsichtlich der eigenen Lage, geringen Grösse und Ressourcenarmut so sehr wie kaum eine andere Nation auf Erden.

Dieses ambivalente Verhältnis zeigt sich auch, wenn wir im Ausland auf Schweizerinnen und Schweizer treffen wie jetzt während der Sommerferien. Max Frisch (1911–1991) formulierte dazu in seinem «Fragebogen» den hintersinnigen Satz: «Wenn Sie sich in der Fremde aufhalten und Landsleute treffen: befällt Sie dann Heimweh oder dann gerade nicht?»

Heimweh galt lange als Schweizer Krankheit, denn bis etwa 1900 war unsere Alpenrepublik ein reines Auswanderungsland: Tausende verliessen aus wirtschaftlicher Not die Schweiz und verdingten sich im Ausland – zunächst Söldner, dann Schweizergardisten, später Siedler in den USA.

«Haben Sie schon Auswanderung erwogen?», schreibt Frisch im selben «Fragebogen». Die Beweggründe sind heute andere, denn die meisten der gegenwärtig 776'300 Auslandschweizerinnen und -schweizer verlassen ihre Heimat, um in der Fremde internationale Erfahrungen zu machen und damit den eigenen Lebenslauf aufzupeppen.

Aber alle Auswanderinnen und Auswanderer tragen zum guten Ruf unseres Landes im Ausland bei und machen uns stolz – egal ob heute die Musikerin Sophie Hunger (38) und der Spitzenkoch Daniel Humm (45) oder früher der Autohersteller Louis Chevrolet (1878–1941) und das erste Bond-Girl Ursula Andress (85): Wir sind geschüttelt UND gerührt.

Denn es ist nicht gut, wenn wir uns abschotten und satt-zufrieden uns selber genügen. Wir müssen in den Wettbewerb mit der Welt treten – so wie die Mountainbikerinnen an den Olympischen Spielen in Tokio.

Das Magazin ist heute monothematisch der Schweiz im Ausland gewidmet.

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