Er schwieg. 36 Jahre lang. Erich J.* (66) blieb stumm, als fünf Menschen brutal ermordet wurden. Er sagte nichts, obwohl immer wieder Unschuldige verhaftet wurden. Er ging auch nicht zur Polizei, als die Tatwaffe gefunden wurde: «Ich habe mit mir gerungen. Aus Rücksicht auf meine Familie unternahm ich nichts», sagt er heute. Vor allem seine Schwester habe ihm geraten, sich rauszuhalten. «Sie sagte, ich würde nur Probleme bekommen.»
Im letzten Jahr starb sie. Und endlich getraut sich Erich J. zu erzählen, was er über Peter N.* weiss, einen Bekannten seiner Familie. Peter (heute 65) ist in den Fünffach-Mord von Seewen verwickelt, vermutet Erich J. Der Solothurner Polizei liegt seine Aussage schriftlich vor.
13 Schüsse, fünf Tote
Es ist das grösste ungeklärte Verbrechen in der Kriminalgeschichte der Schweiz: An Pfingsten 1976 wurde das Ehepaar Elsa (†62) und Eugen Siegrist (†63) aus Basel in seinem Ferienhäuschen in Seewen SO hingerichtet. Bei dem Massaker starben auch die Witwe Anna Westhäuser-Siegrist (†80) sowie ihre beiden Söhne Emanuel (†52) und Max (†49). Es fielen 13 Schüsse.
Trotz intensiver Fahndung und Überprüfung von mehr als 10000 Hinweisen wurde der Täter bis heute nie gefasst.
Einzig die Tatwaffe wurde gefunden: 1996, rund 20 Jahre nach dem Mord. Der Nachbau einer Winchester war in einem alten Haus in Olten entdeckt worden. Das Gewehr, auf den Namen Carl Doser registriert, lag mit zwei Pässen in einer Küchenkombination. Die Wohnung gehörte Dosers Mutter.
Doser galt seitdem als Hauptverdächtiger. Doch er blieb unauffindbar. Man glaubte, er habe schon kurz nach dem Verbrechen das Land verlassen. Die Polizei hatte ihn damals als einen von rund 3000 Besitzern eines Winchester-Gewehrs verhört.
Der Waffennarr gab an, es auf dem Trödelmarkt an einen Unbekannten verkauft zu haben.
Im Brief an die Solothurner Polizei beschreibt Erich J. nun eine Begebenheit, die sich ein Jahr vor dem Fünffachmord zugetragen habe. Der Automechaniker Peter N. traf sich regelmässig mit Carl Doser, der nur wenige Hundert Meter weiter an der Flora-strasse wohnte, im Kleinbasler Restaurant Schöneck. Auch Adolf Siegrist, ein Verwandter des später ermordeten Ehepaars, war oft dabei.
«Peter war der Anführer der Gruppe», sagt Zeuge Erich J. «Einmal hat er mir ein Winchester-Gewehr gezeigt. Ich hatte die Waffe sogar in der Hand. Peter hatte sie im Kofferraum seines Autos versteckt.»
Erich J. ist überzeugt: Mit diesem Gewehr wurden ein Jahr später fünf Menschen getötet. «Peter sagte mir, er habe die Winchester für 200 Franken dem ‹Solothurner› abgekauft. Damit meinte er Carl Doser», sagt der Zeuge. «Peter hat mit der Waffe geprahlt.»
Peter N. geriet nie ins Visier der Behörden. Anders als Adolf Siegrist, den alle nur «Dölfeli» nannten: Der sass sogar in Untersuchungshaft. «Er war Peters ‹Gango›. Dölfeli musste auch die Munition für die Winchester besorgen», sagt Erich J.: «Peter selbst hat mir das erzählt.»
Die Polizei konnte Adolf Siegrist jedoch nie etwas nachweisen. Er starb in den 80er Jahren an einem Nierenleiden. «Ich wusste damals nicht, dass Dölfeli mit den Siegrists verwandt war. Das habe ich erst vor kurzem erfahren», so J. «Jetzt bin ich mir sicher, dass Peter und Adolf etwas mit dem Mordfall zu tun hatten.»
Welches Motiv die beiden gehabt haben könnten? Das weiss auch Erich J. nicht.
Polizei prüft den Fall
Die Solothurner Polizei hat die schriftliche Aussage von Erich J. entgegengenommen. «Wir klären derzeit bei der Staatsanwaltschaft ab, ob und in welcher gesetzlich zulässigen Form den Hinweisen nachgegangen werden kann», sagt Sprecher Bruno Gribi. Denn die Tat ist in der Zwischenzeit verjährt. «Trotzdem sind die Strafverfolgungsbehörden des Kantons Solothurn selbstverständlich sehr daran interessiert, auch diesen Mordfall zu klären», so Gribi.
Wird der Fall Seewen nun doch noch gelöst? Robert Siegrist (57), Sohn des getöteten Ehepaars, würde sich freuen: «Es ist schlimm für mich, dass ich nach fast 40 Jahren immer noch nicht weiss, wer meine Eltern getötet hat!»
Zeuge Erich J. hat sich auch bei ihm gemeldet. «Ich bin sehr froh darüber», sagt Robert Siegrist. «Seine Erzählungen klingen für mich plausibel und geben mir Hoffnung, dass der Mörder nun doch noch gefunden werden kann.»
Siegrist kennt den Fall bestens. Zu Beginn der Ermittlungen war er der Hauptverdächtige: «Es gab nie einen Beweis, der gegen mich sprach. Trotzdem konzentrierte sich die Arbeit der Beamten auf mich», erzählt Siegrist. «Bei den Ermittlungen wurden viele Fehler gemacht. Ich vermute, die Solothurner Behörden waren überfordert.»
Zeuge Erich J. hat den Kontakt zu Peter N. schon lange abgebrochen. «Vor drei Monaten habe ich ihn das letzte Mal zufällig in Basel getroffen», sagt der Zeuge. «Ich habe das Gefühl, seit den Seewen-Morden ist er völlig verändert, wirkt nervös.» l