Der Mann auf der Anklagebank vor dem Obergericht Zürich wirkt gebrechlich. Humayun R.* (64) wirkt massiv älter als bei dem Prozess vor dem Bezirksgericht Zürich im August 2018. Er hat Schwierigkeiten, den Übersetzer durch die Plexiglasscheibe zu verstehen. Seine Antworten auf die Fragen des Richters wirken leicht wirr. Doch am Ende des Prozesses kann er sich freuen: Er wird vollumfänglich frei gesprochen!
11 Jahre Verdacht
Laut der Anklage soll Humayun R. seine 41-jährige Ehefrau am 19. Oktober 2009 vor der Wohnung in Zürich-Oerlikon ZH mit fünf Schüssen regelrecht hingerichtet haben. Die Frau hatte eine aussereheliche Beziehung mit einem Banker, der Ehemann war vor «Eifersucht zerfressen», wie die Staatsanwältin am Prozess vor dem Bezirksgericht Zürich im August 2018 sagte. Er wurde damals zu 14 Jahren Haft verurteilt.
Der bengalisch-schweizerische Doppelbürger hat das Urteil weitergezogen. Er hat die Tat nie in einer direkten Einvernahme gestanden. Die Staatsanwaltschaft stützte die Anklage auf Indizien und Resultate von verdeckten Ermittlungen. Es gibt weder Zeugen noch Beweise.
Söhne im Gerichtssaal
Im Saal im Obergericht sind auch zwei der vier Söhne. Sie wirken nervös. Die jungen Männer waren immer von der Unschuld ihres Vaters überzeugt. «Unser Vater ist nicht so ein Monster, wie ihn die Staatsanwaltschaft darstellt», sagten sie vor zwei Jahren im Interview mit BLICK. Sie erhalten durch das Obergericht recht.
Die Verteidigung des erstinstanzlich verurteilten Humayun R. erhielt gleich am Anfang des Prozesses viel Rückenwind. Der Präsident des Obergerichts Rolf Naef machte klar, dass die Resultate der verdeckten Ermittlung nicht vollumfänglich verwendet werden können. Er brauchte harte Worte. Er sagte: «Die Verwertbarkeit der verdeckten Ermittlung ist rechtsstaatlich zweifelhaft.» Und: «Verdeckte Einvernahmen durch Polizeibeamte sind heikel. Vor allem, wenn sie einen Verdächtigen gezielt zu einer Straftat befragen.»
Mass der Einwirkung wurde überschritten
Rolf Naef fragt: «Darf man während verdeckten Ermittlungen Schutzmassnahmen umgehen, um ein Geständnis zu entlocken? Bei einer Befragung muss eigentlich ein rechtlicher Vertreter anwesend sein. Der Angeschuldigte muss das Protokoll durchlesen können und notfalls ändern.» Der Präsident des Obergerichts gibt gleich die Antwort auf die Frage: «Das Mass der Einwirkung wurde bei weitem überschritten.» Und noch härter: «Das ist eines Rechtsstaates unwürdig.»
Die Untersuchungen zu dem Fall dauerten ganze acht Jahre. Die Polizei setzte eine verdeckte Ermittlerin als die Wahrsagerin «Suzan» ein, ein Polizist mimte den Diamantenhändler «Orhan». Zudem wurden die Telefone abgehört und die Wohnung verwanzt. Dabei hat die Polizei nur einzelne belastende Aussagen abgefangen. In einer direkten Befragung erreichten die Ermittler aber nie ein Geständnis. Eine Tatwaffe wurde nicht gefunden. An Humayun R. wurde gerade mal ein einziges Schmauchpartikelchen gefunden. Als Beweis bräuchte es mindestens drei.
«Etwas» mit dem Mord zu tun
In der Urteilsbegründung sagt der Präsident des Obergerichts, dass er in seinen 30 Jahren als Richter noch nie jemanden mit so einer dünnen Indizienkette verurteilt hat. Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten reichten nicht als Beweis, sagt er. Rolf Naef glaubt zwar, dass Humayun R. etwas mit dem Tod seiner Frau zu tun hat, aber er weiss nicht was. Darum könne man ihn auch nicht verurteilen. Im Zweifel für den Angeklagten.
Anwalt verlangte Freispruch
Der Anwalt des Beschuldigten, Andreas Leuch, verlangt seit 11 Jahren einen Freispruch. Er forderte jetzt für seinen Mandanten 605'000 Franken Schadenersatz für entgangenes Einkommen und 162'000 Franken Genugtuung. Das Gericht folgt der Argumentation, Humayun R. erhält das Geld aus der Gerichtskasse. Der Anwalt zeigte sich gegenüber BLICK erfreut: «Mein Mandant stand 11 Jahre unter extremer Anspannung. Jetzt sind wir einfach nur erleichtert. Bei allem anderen als ein Freispruch wäre ich aus allen Wolken gefallen.»
Weiterzug an Bundesgericht möglich
Ob der Prozess 11 Jahre nach dem gewaltsamen Tod von Nasrin R.* zu Ende ist, bleibt unsicher. Staatsanwältin Françoise Stadelmann erwägt einen Weiterzug ans Bundesgericht. «In der ersten Instanz haben wir Recht bekommen, in der zweiten nicht. Wir warten jetzt die schriftliche Urteilsbegründung ab, dann entscheiden wir.»
*Namen der Redaktion bekannt