Das Schlimmste ist verhindert, der Schock ausgeblieben. An der Spitze der Kulturnation und Wirtschaftsmacht Frankreich steht keine fremdenfeindliche, hetzerische Ultrarechte. Die Enttäuschung von Marine Le Pen ist Europas Erleichterung. Der Wahlsonntag war ein guter Tag. Aber leider nicht viel mehr als ein Tag.
Denn der herrische Extrem-Nationalismus in weiblicher Gestalt hat zwar nicht die Macht ergriffen. Aber er bleibt mächtig. Ein Drittel der Stimmen für geballte Frustration und Widerwärtigkeit, das schmiert den Motor des Front National, der möglicherweise bald unter anderem Namen auftritt. Le Pen wird beharrlich ihren Umsturz von rechts vorantreiben – die nächsten Présidentielles sind schon 2022, das ist keine Ewigkeit entfernt.
Entscheidend ist, ob bis dahin der frischgewählte Emmanuel Macron das gespaltene und verkrustete Land voranbringt. Ob er seinen Herkulesjob auf die Reihe kriegt. Wenn er die Franzosen nur annähernd so enttäuscht, wie es seine Vorgänger taten – der bürgerliche Schaumschläger Sarkozy und der sozialistische Dilettant Hollande –, dann marschiert der Front National bei den nächsten Wahlen durch.
Entscheid gegen alle anderen
Schafft es Macron? Für die Zukunft Europas muss man es hoffen. Doch Anlass zu überzeugtem Optimismus gibt es bei seiner Bewegung En Marche! leider nicht en masse. Macron wurde vorab deshalb gewählt, weil für viele Franzosen alle anderen nicht wählbar waren. Euphorische Unterstützung hat er nicht im Rücken.
Man weiss ja auch nicht genau, was zu unterstützen wäre. Macron ist jung, gescheit, proeuropäisch, ein moderner Mann der vernünftigen Mitte – alles sympathische Eigenschaften. Aber auch schwammige. Politische Pläne hat er nur grob vorgelegt, darunter auch krude, und viele inhaltliche Fragen sind ungeklärt. Der neue Präsident muss so schnell wie möglich Antworten liefern, genauso wie er seine Bewegung in kürzester Zeit Richtung Partei formen muss.
Eigennutz, Demütigung, Wunden
Im Juni wählt Frankreich seine Nationalversammlung. Der Ausgang ist völlig offen. Macron ist auf eine konstruktive Mehrheit angewiesen, damit er mit Durchschlagskraft regieren kann. Aber er ist der Einzige, der von klaren Verhältnissen profitieren würde, neben Frankreich und Europa natürlich.
Die anderen Parteien haben aus Eigennutz kein Interesse daran. Die Demütigung, erstmals seit 1958 nicht mehr das Élysée zu bevölkern, sitzt bei den etablierten Parteien tief. Die Bürgerlichen wollen selber zurück an die Macht, die Sozialisten müssen Wunden leckend erst wieder auf die Beine kommen. Die in der ersten Wahlrunde erschreckend erfolgreichen Mélenchon-Linken werden ihnen genüsslich jeden Knüppel dazwischen werfen.
Le Pen lauert schon
Im akuten Interesse des problemprallen, orientierungslosen Landes wäre es, dass sich alle Gemässigten und Liberalen hinter Präsident Macron scharen. Die Dringlichkeit gebietet es, der politische Realitätssinn lässt es als naiven Wunsch aussehen.
Doch eine erfolgreiche Präsidentschaft Macron ist das wirkungsvollste und vielleicht einzige Mittel, um Marine Le Pen in fünf Jahren zu verhindern. Sie wird dann 53-jährig sein – jung genug, um Frankreich auf dem verheerenden Marsch in die Vergangenheit anzuführen.
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