Martin* (25) ist ein Mann, der nicht auffällt auf der Strasse. Im Juli sitzt er vor einem Aargauer Bezirksgericht, schaut immerzu seine Hände an. Es geht um Kinderpornografie. Mehr als 2000 Bilder haben die Ermittler auf seinem Computer gefunden. Die Kinder darauf sind drei bis acht Jahre alt.
Es ist kein aussergewöhnlicher Fall. Das ist das Schlimme daran. Im Gerichtssaal zeigt sich der Angeklagte, selbst Vater eines Kindes, genervt: «Es ist scheisse, was ich tat.» Der Richter hakt nach. Martin schaut seine Hände an. Dass er nun ein Verfahren am Hals habe, finde er mühsam.
Der Richter will wissen, ob er darüber nachgedacht habe, dass auf jedem dieser Bilder ein Mensch sei, der die Konsequenzen ein Leben lang zu tragen habe. Martin hat sich das nie überlegt. Er sagt: «Ich will das endlich abschliessen. Nichts mehr damit zu tun haben.»
Das will Linda* (27) auch. Sie kann nicht.
Anfang September, ein Restaurant in Bern. Linda ist eine Frau, die auffällt auf der Strasse. Sie ist hübsch, auffallend.
Linda war eines der Kinder auf dem Bildschirm von Menschen, die sich Missbrauchsvideos anschauen.
Während Martin sich nicht fragt, was es bedeutet, missbraucht zu werden, fragt Linda sich, wie ihr Leben aussähe, wenn sie nicht missbraucht worden wäre.
Mit 13 war Linda ein aufgewecktes Mädchen. Als die Familie umzieht, kommt sie in ein Internat, findet schnell Freundinnen. Im Zug wird sie von einem Fremden angesprochen, sie trifft ihn immer wieder, zweieinhalb Jahre lang. Er filmt, was er ihr antut. Was er tat, darüber will Linda nicht sprechen.
Linda geht es immer schlechter. Eltern und Schule sind ratlos, hilflos. Linda sagt: «Ich habe die Hinweise wie Brotkrümel ausgestreut. Ich wollte, dass jemand hilft, traute mich aber aus Angst vor dem Täter nicht zu reden.»
Sieben Jahre in der Klinik
Die Situation wird untragbar. Man nimmt Linda von der Schule und aus ihrem Umfeld; damit endet der gefilmte Missbrauch. Bald kommt sie in eine psychiatrische Klinik in Bern. Es wird sieben Jahre dauern, bis sie diese wieder verlässt.
In der Klinik ist Linda extrem suizidal. Die Erinnerungen holen sie immer wieder ein. Linda erklärt, es sei dieser extreme Hass gegen den eigenen Körper, in dem sie sich gefangen fühlt.
Kraft, über das Geschehene zu reden, hat sie nicht. Vor allem, weil sie sich noch immer vor dem Täter fürchtet. Die sieben Jahre in verschiedenen Kliniken sind eine Aneinanderreihung von Mandala malen, Therapiestunden, Medikamente schlucken und Wochen im Isolationszimmer.
Manchmal ist sie auf einem Bett fixiert, weil die Pfleger Angst haben, sie könne sich etwas antun. Linda sagt: «In diesen Momenten gab es keinen Reiz von aussen. Nur die Erinnerungen, die über mich hereinbrachen, den ganzen Raum ausfüllten.»
Dann aber, als sie ganz unten ist, nur noch 37 Kilo wiegt, gibt sie dem Leben noch eine Chance. Wenns klappt, ist es gut, sagt sie sich. Und sonst ist es egal.
Sie wechselt erneut die Klinik, zwingt sich zu essen, erstattet Anzeige bei der Polizei, lernt einen jungen Mann kennen, der wegen Burnout in der Klinik ist. Der sagt: «Du musst hier raus. Wenn du willst, kannst du vorübergehend bei mir wohnen.» Linda geht ins Stationszimmer und sagt: Ich trete morgen aus.
Das Leben wiederentdeckt
Das erste Mal seit sieben Jahren ist sie frei. Auch frei, sich das Leben zu nehmen: «Ich habe gedacht, ich kann es in fünf Minuten tun oder zuerst noch bei Starbucks einen Kaffee trinken.» Nach und nach entdeckt Linda, dass sie wieder lebt, dass ein Leben schön sein kann.
Sie hat eine lange Liste von Dingen, die sie tun will. Es sind einfache, alltägliche Dinge. Für Linda sind sie es nicht: Seifenblasen machen, hohe Schuhe kaufen, einen Filmabend mit Freunden geniessen.
Linda kämpft weiter. Noch immer. Gegen die Erinnerungen. Gegen das Stigma, das ein so langer Aufenthalt in der Psychiatrie mit sich bringt. Durch die Befragungen bei der Polizei hat sie sich auch gekämpft. Noch heute arbeitet sie mit dem Psychiater Jan Gysi zusammen. Sie hat ihn kurz vor ihrem Austritt kennengelernt. «Er war der Erste, der verstand, wo das Problem war.»
Mittlerweile hat Linda die Matura nachgeholt, soeben ein Studium begonnen. Mit dem jungen Mann aus der Klinik ist sie verlobt.
Der Täter wurde nie gefasst. Er lebt irgendwo – unbehelligt. Es kann aber jederzeit passieren, dass Bilder von Linda im Internet auftauchen, ihm zugeordnet werden können und er gefasst wird.
Sie hofft, dass das passiert. Weil sie dann weiss, dass er das keinem Kind mehr antun kann.
Der Konsument ist für Linda genauso schuldig wie der Täter. Weil er Gefallen findet am Leid eines anderen Menschen.
Einen tröstlichen Gedanken gibt es: Linda stellt sich vor, wie sie irgendwann auf einer Parkbank sitzt und sich ein Mädchen neben sie setzt, das vielleicht Ähnliches erlebt hat: «Ich kann ihr helfen. Wegen meiner Erfahrung.»
Die Höchststrafe für den Konsum von Kinderpornografie liegt bei einem Jahr. Meist bedingt. Martins Fall sollte mit einer Geldstrafe im abgekürzten Verfahren erledigt werden. Doch der Aargauer Richter wies den Fall zurück an die Staatsanwaltschaft. Er wollte das nicht durchwinken.
* Namen der Redaktion bekannt
Castagna
Beratungs- und Informationsstelle für sexuell ausgebeutete Kinder, Jugendliche und in der Kindheit ausgebeutete Frauen und Männer: castagna-zh.ch
Forio
Beratung und Therapie für Männer mit pädophiler Neigung, die bisher keine Taten begangen haben, und für solche, die straffällig wurden: keinmissbrauch.ch
Castagna
Beratungs- und Informationsstelle für sexuell ausgebeutete Kinder, Jugendliche und in der Kindheit ausgebeutete Frauen und Männer: castagna-zh.ch
Forio
Beratung und Therapie für Männer mit pädophiler Neigung, die bisher keine Taten begangen haben, und für solche, die straffällig wurden: keinmissbrauch.ch