Föderalismus im Gegenwind
Bund setzt dem Kantönligeist ein Ende

Der Bundesrat legt heute neue Corona-Schutzmassnahmen fest. Aber warum ist das nicht schneller gegangen? Und welche Rolle soll der Bund in Zukunft spielen?
Publiziert: 18.10.2020 um 00:04 Uhr
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Aktualisiert: 18.10.2020 um 09:20 Uhr
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Heute Sonntag setzt der Bundesrat dem Schweizer Kantönligeist ein Ende.
Foto: keystone-sda.ch
Sven Ziegler

Heute Sonntag also Notfallsitzung des Bundesrats. Sie steht am Ende eines wochenlangen Hin und Her zwischen Bund und Kantonen.

Noch am Donnerstag wandte sich Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (60) mit dem eindringlichen Appell: «Es ist jetzt fünf vor zwölf», an die Bevölkerung und forderte neue Massnahmen gegen das Virus. An der gleichen Medienkonferenz schob der Bundesrat die Verantwortung für diese Entscheide allerdings gleich wieder ab. «Die Kantone sind in der Pflicht», sagte Innenminister Alain Berset (48) – ein Satz, den die Bevölkerung schon unzählige Male gehört hat.

Verantwortung abgeschoben

Der oberste Gesundheits­direktor, Lukas Engelberger (45), wiederum fügte mit Seitenblick auf Sommaruga vielsagend an: «Ich kann mir durchaus aber auch vorstellen, dass der Bund wieder verstärkt eine Rolle übernehmen und nationale Massnahmen beschliessen könnte.»

Willkommen im Föderalismus, möchte man sagen. Doch nicht nur Bund und Kantone schoben die heisse Kartoffel immer wieder hin und her. Auch innerhalb der einzelnen Kantonsregierungen wurden wichtige Entscheide blockiert, mit denen die ungehinderte Verbreitung des Virus zu bremsen gewesen wäre: In den vergangenen Wochen kam es immer wieder zu heftigen Diskussionen zwischen Volkswirtschaftsdirektionen und Gesundheitsdepartementen. «Neutrale Entscheide sind so kaum möglich, das haben wir bei uns sehr stark gemerkt», sagte der Mitarbeiter einer Ostschweizer Kantonsregierung.

Auch bei Wissenschaftlern sorgte dieser Ablauf für Empörung. Die Genfer Taskforce-Virologin Isabella Eckerle auf Twitter: «Die Schweiz wird international dafür anerkannt, dass sie bei der Bewältigung der zweiten Welle eine besonders schlechte Arbeit geleistet hat. Nicht wirklich etwas, worauf man stolz sein kann.»

Führungsfiguren fehlen

Psychologie-Professor Ad­rian Bangerter (50) sieht dringenden Handlungsbedarf, wenn die Bevölkerung die Massnahmen wieder umsetzen soll: «Im Frühling hatten wir die Kombination einer konkreten Gefahr und einer klaren Führung vonseiten des Bundes. Das fehlt jetzt. Um die Leute zu mobilisieren, braucht es beides: ein Bedrohungsgefühl und eine starke Figur.»

Zu Beginn der Krise habe BAG-Mann Daniel Koch diese Rolle übernommen. Er verkörperte die Corona-Krise und war am Ende allgemein als «Mr. Corona» bekannt. Sein Wort hatte Gewicht. «Viele Leute orientieren sich in Notsitua­tionen an solchen Führungsfiguren», erklärt Bangerter. Diese Instanz fehle nun.

Jeder Tag zählt

Auch für den Immuno­logen Daniel Speiser (65) von der Corona-Taskforce des Bundes ist klar: «Der Bund muss wieder mehr Kompetenzen übernehmen. Die Diskussionen zwischen Bund und Kantonen laufen zwar, aber momentan laufen gewisse Dinge nicht ­ideal. Der Föderalismus ist eine gute Sache, doch jetzt sind übergeord­nete, nationale Regelungen notwendig.»

Wenn die Fallzahlen nicht noch weiter drastisch steigen sollen, muss die Landesregierung bei ihrer heutigen Sitzung Nägel mit Köpfen machen. Speiser: «Wir haben keine Zeit mehr. Jeder Tag zählt.»

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