Flugpionier Bertrand Piccard über Schlafentzug, Krisen und den dramatischen Absturz
«Vor meinem geistigen Auge sah ich mich sterben»

Die Reise von Flugpionier Bertrand Piccard geht weiter. Als Psychiater weiss er, dass es nicht nur hier auf die richtige Flughöhe ankommt. Ein Gespräch über die grossen Fragen des Lebens.
Publiziert: 30.04.2016 um 11:30 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 19:14 Uhr
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«Ein Flieger-Unfall hat mich innerlich zerbrochen. Danach habe ich viel Ballast abgeworfen»: Bertrand Piccard.
Foto: PR
Carmen Schirm-Gasser

Bertrand Piccard steckte seit Juli 2015 auf Hawaii fest. Vergangenen Donnerstag ging seine Weltumrundung mit dem selbst gebauten Solar Impulse 2 weiter. Ziel: Nordamerika und die nächste Zwischenstation, an der Piccard die Menschheit vom Einsatz alternativer Energien überzeugen will. Gattin Michèle, Betriebswirtin und für die Pressearbeit zuständig, begleitet ihn auf seiner Mission. 2003 startete er mit dem Projekt, zur gleichen Zeit begann er zu schreiben. Frühmorgens und abends widmete er sich derweil den grossen Fragen des Lebens. Die Antworten füllten 313 Seiten, alle handgeschrieben. 2015 kam es «zu einer Doppelgeburt»: Piccard startete zur Weltumrundung, gleichzeitig erschienen seine Erkenntnisse auf Deutsch. Beide Projekte sollen Impulse vermitteln, wie Menschen ein besseres Leben führen können. Ein Gespräch kurz vor dem Take-off.

Herr Piccard, Sie stehen kurz vor der Fortsetzung der Weltumrundung. Erleichtert?

Bertrand Piccard: Ja. Es waren lange Monate. Viel Hoffen, Bangen und Warten. Jetzt geht die Reise weiter.

Was ist die grösste Herausforderung?

Ich werde drei Tage und Nächte alleine fliegen, als Pilot kann man nicht mehr als 20 Minuten durchgehend schlafen. Schlafentzug ist mein grösstes Problem, da der Mensch nach zwei, drei Tagen zu halluzinieren beginnt.

Wie managen Sie den Schlafentzug?

Durch Selbsthypnose.

Bei welcher Fluggeschwindigkeit?

Wir fliegen langsam, rund 50 km/h, dafür nonstop. Die Dauer ist hier wichtiger als die Geschwindigkeit. Wie vieles im Leben. Lassen Sie uns aber über andere Dinge sprechen. Es kommt, wie es kommen muss.

Piccard trifft  mit Co-Founder Andre Borschberg (l)in New York Ban Ki-moon (m), Generalsekretär der Vereinigten Nationen.
Foto: EPA/JUSTIN LANE

Dann gerne über Ihren ursprünglichen Beruf. Wie viele Patienten haben Sie eigentlich als Psychiater therapiert?

Ich arbeitete 20 Jahre als Psychiater. Es werden wohl mehrere Hundert Menschen gewesen sein. Gezählt habe ich sie aber nie.

Wie vielen konnten Sie helfen?

Ich würde meinen: Die allermeisten meiner Patienten haben etwas gefunden, um eine Seite an sich zu ändern. Oft reichte es, gemeinsam einen einzigen richtigen Satz zu formulieren, damit es den Patienten besser ging. Manchmal fanden wir diesen Schlüsselsatz schon im ersten Treffen, manchmal erst nach mehreren Sitzungen.

Ein Satz reicht zur Genesung? Klingt ein wenig nach Voodoo.

Im Gegensatz zur Psychoanalyse, in der man seinen Arzt oft drei bis vier Mal pro Woche sieht, und zwar über Monate hinweg, habe ich mich auf kurze Therapien spezialisiert. Mit zwei oder drei Sitzungen. Da geht es nicht darum, die Vergangenheit eines Menschen lang auszudehnen. Oder ewig über ein Problem zu sprechen. Mitunter erzählten mir die Patienten ihr Problem immer wieder. Darauf antwortete ich jeweils: Sie sind nicht hier, um ständig Ihre Probleme durchzukauen, Sie sind hier, um etwas zu ändern. Ich suchte zusammen mit den Menschen nach einem Weg, wie sie etwas ändern können, nach einem Weg aus der Misere. Und das geht oft erstaunlich schnell.

Sie empfehlen etwa, sich weniger gegen den Wind zu stemmen. Weshalb?

Natürlich müssen wir in unserem Leben kämpfen, um zu ändern, was sich ändern lässt. Doch wenn wir zurückschauen, erkennen wir, dass unser Leben häufig anders verläuft, als wir es planen – ja dass selbst Erfolge auf Zufällen beruhen. Eine amerikanische Studie zeigt, dass nur 20 Prozent unseres Lebens planbar sind. 80 Prozent sind es nicht. Wir verschwenden also unserer Energie meistens darauf, 20 Prozent zu kontrollieren.

Wir machen uns zu viele Sorgen über Dinge, die wir nicht beeinflussen können?

Genau. Die vielen irrationalen Ängste vor dem Ungewissen sind die Wurzel vieler Leiden. Dabei liegt es in unserer Hand, ob wir für etwas kämpfen wollen, worauf wir ohnehin keinen Einfluss haben. Oder Situationen so annehmen, wie sie sind, und diese akzeptieren.

Gelassenheit zu finden, ist nicht immer einfach. Wie soll das gehen?

Man muss sich bewusst werden, dass uns das Leben ständig Veränderungen oder Krisen parat hält. Krisen gehören zum Leben. Man kann sie als Chance ansehen. Psychiater Karl Abraham formulierte es so: Es gibt Krisen, die uns erleuchten, Krisen, die uns anspornen, Krisen, die uns erneuern. Natürlich gibt es aber auch welche, die uns erschüttern oder uns sogar niederschmettern. Wir neigen aber dazu, die positive Entwicklung erst im Nachhinein zu verstehen.

Das klingt etwas zynisch. Worin liegt denn das Positive einer Kampf-Scheidung?

Es greift zu kurz, den Partner für böse zu erklären, bloss weil er uns verlässt. Vielleicht sollte man sich besser fragen, was man daraus lernen kann. Muss man besser kommunizieren, mehr auf den anderen eingehen?

Anderes Beispiel. Der Tod eines geliebten Menschen: Wo liegt darin der tiefere Sinn?

Wenn jemand tot ist, dürfen wir traurig sein. Natürlich. Der Tod ist etwas, das wir akzeptieren müssen. Wenn wir akzeptieren, dass wir traurig sind und leiden, statt uns gegen die Ursache aufzulehnen und die Vergangenheit zurückzuwünschen, gehen wir aber viel schneller aus der Traurigkeit raus. Es ist eine Möglichkeit, uns mit Spiritualität in uns zu beschäftigen. Denn der Verlust eines nahen Menschen zeigt uns klar auf, dass das Glück nicht weltlich sein muss, sondern in einer spirituellen Dimension liegen kann. Dafür müssen wir uns dieser Möglichkeit erst öffnen.

Hatten Sie selbst schon eine Lebenskrise?

Natürlich. Ich hatte Unfälle, Misserfolge, ich verlor meine Eltern, meinen Neffen und eine Nichte. Auch ich hatte Momente in meinem Leben, in denen ich keine Ahnung hatte, wie es weitergehen soll. Und jeweils kurz glaubte, dass mein ganzes Leben zerstört sei.

Wie fanden Sie wieder aus dem Tief heraus?

In Krisen ist es wichtig, nicht um das zu kämpfen, was man verloren hat. Man sollte sie als unvermeidlichen Anstoss sehen. Sie führen uns zu neuen Stärken und Ressourcen, die wir vor der Krise nicht hätten mobilisieren können. Dazu brauchts aber einen gewissen zeitlichen Abstand zum Geschehenen.

Sie haben eine Lebenskrise vergessen: Sie wären um ein Haar zu Tode gekommen. Möchten Sie darüber reden?

Ja, richtig. Während einer Akrobatikvorführung mit einem Drachenflieger ist das Segel gerissen. Ich trudelte durch die Luft, konnte nichts mehr sehen. Ich hatte mir im Gesicht eine Schnittwunde zugezogen, es floss also viel Blut. Während der elf Sekunden freien Falls malte ich mir die Wucht meines Aufpralls aus. Vor meinem geistigen Auge sah ich mich sterben. Und zudem sah ich das Gesicht meiner sechs Monate alten Tochter im Arm meiner Frau. Irgendwie schaffte ich es dann doch, den Notfallschirm zu öffnen.

Wie haben Sie später dieses Trauma überwunden?

Nach dem Unfall war ich zwar äusserlich unversehrt, aber innerlich zerbrochen. Zufällig hatte ein Zuschauer den Vorfall gefilmt, sodass ich später zu Hause den Sturz bis ins kleinste Detail analysieren konnte. Dadurch verlor er seinen Schrecken. Ausserdem wurde ich durch meine Schnittwunde auf der Wange ständig darauf hingewiesen und erzählte anderen wieder und immer wieder vom Unfall. So konnte ich die Gefühle während des Sturzes verarbeiten, ich habe sie nicht verdrängt, wie es häufig der Fall ist. Dann kehren sie in Form von Depressionen oder Angst zurück.

Zogen Sie daraufhin die Notbremse?

Ich habe sehr viel Ballast über Bord geworfen. Sehr oft verschwenden wir viel Energie für Kleinigkeiten. Ich persönlich bin auf Distanz zum Vorfall gegangen, habe mir überlegt, was wichtig ist, was ich beeinflussen kann, was nicht. Und ich habe meine Flughöhe geändert.

Wurden Sie durch diesen Absturz gläubig?

Ich glaubte schon vorher an Gott. Und zwar an einen Gott, der uns Menschen geschaffen hat. Woran ich jedoch nicht glaube: an jenen Gott, den wir Menschen erschaffen haben.

Also nicht an den katholischen, reformierten, buddhistischen Gott?

Ich habe mich über die Jahre mit allen grossen Religionen befasst. Auch mit Astrologie und spirituellen Gruppen. Alle haben in ihrem Kern einen weisen Gedanken. Wenn man nun all die verschiedenen Religionen nimmt und ein Generalpuzzle daraus zusammenstellt, hilft das, das globale Bild besser zu verstehen. Das Ziel ist dabei nicht, eine Antwort zu finden. Oder eine einzige Religion zu nehmen und diese als heilbringend anzusehen.

Glauben Sie an die Wiedergeburt?

Ja.

Weil es beruhigt?

Nicht unbedingt. Ein Leben ist einfach nicht genug, um uns voll entwickeln zu können.

Wurden Sie dafür von Kollegen aus der Wissenschaft kritisiert? 98 Prozent glauben nicht an einen Gott.

Ja, natürlich. Es gab einige, die mich darauf hinwiesen, ich solle als Wissenschaftler nicht über solche Themen sprechen.

Glaubten Ihr Vater und Ihr Grossvater, auch beide Wissenschaftler, an einen Gott?

Beide glaubten an ein Leben nach dem Tod. Aber dieses Thema war nicht so wichtig für sie. Sie waren nicht auf der Suche nach Wissen darüber. Beide sprachen lieber über Technologie und Wissenschaft. Als mein Vater 2008 starb, war ich bei ihm. Er hatte keine Angst vor dem Tod, war ganz ruhig.

Wenn es Gott gibt: Wie erklären Sie sich, dass er so viele schreckliche Dinge zulässt?

Gott hat eine Welt erschaffen, in der es Dualität gibt. Innerhalb der Schöpfung kann nichts, rein gar nichts, ohne sein Gegenstück existieren. Alles, was uns umgibt, ist aufgeteilt in Tag und Nacht, heiss und kalt, Trauer und Freude. Da wir nun mal in einer Welt leben, in der es Dualität gibt, erleben wir manchmal etwas Furchtbares und manchmal etwas Schönes. Gott dafür die Schuld zu geben, ist nicht richtig.

Bertrand Piccard: «Die richtige Flughöhe. Wie wir Ballast abwerfen und ein besseres Leben führen können», Piper.

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