Toni Gysi (72) erkannte den Mann mit dem finsteren Blick sofort: «Ich war enttäuscht, als ich das Fahndungsfoto sah», sagt der ehemalige Asylbetreuer von Hassan Kiko (27). «Er sollte die Konsequenzen für seine Taten tragen statt zu fliehen.»
Hassan Kiko und Angela Magdici: Diese Namen kennt seit Dienstag die ganze Schweiz. Der Syrer, ein mehrfacher Sextäter, hat laut Bezirksgericht eine 15-Jährige vergewaltigt. Vier Jahre sollte er dafür hinter Gitter. Doch in der Nacht auf Dienstag gelang ihm die Flucht – Gefängniswärterin Angela Magdici (32) befreite ihn aus dem Knast in Dietikon ZH.
Hat sich die junge Frau aus Wohlen AG in den Häftling verliebt? «Das ist möglich», sagt Gysi. Zwei Jahre lang betreute er Kiko im Asylheim Eschlikon TG. «In dieser Zeit hatte er verschiedene Freundinnen. Offenbar kam er gut bei Frauen an.»
Kiko gelangte 2010 als Flüchtling in die Schweiz. Gysi half ihm bei Bewerbungen und beim Deutschlernen, hatte stets ein offenes Ohr für ihn. «Er war anständig, hatte nie ein freches Maul», erinnert er sich. Der gelernte Coiffeur habe nie viel von sich erzählt. «Ausser, dass er Angst habe, in seine Heimat zurückzukehren. Deshalb bin ich sicher, dass die beiden nicht nach Syrien fliehen werden.»
Doch wo haben sich Hassan Kiko und Angela Magdici versteckt? SonntagsBlick weiss: Sie sind nach Italien eingereist (siehe Box). Nach ihrer Flucht stellen sich viele Fragen. Die wichtigste: Wie sicher sind Schweizer Gefängnisse?
Hassan Kiko konnte fliehen, weil in der Nacht nur zwei Aufseher Dienst hatten. Angela Magdici schob Wache, ihr Kollege schlief. Diese Praxis im Gefängnis Limmattal sorgt bei Justizvollzugsexperten für Kopfschütteln. So kann in den Berner Gefängnissen nie ein Aufseher allein eine Tür zu den Zellentrakten öffnen, wie Laszlo Polgar vom Berner Amt für Freiheitsentzug erklärt: «Der Zutritt zu einer Abteilung erfolgt meist über Schleusen. Diese sind immer nur durch zwei Betreuer zu öffnen.»
Peter Fäh (65), bei der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) zuständig für den Strafvollzug, ist überzeugt: «Limmattal ist kein Einzelfall. Es braucht für die Untersuchungs- und Regionalgefängnisse in der Schweiz generell höhere und einheitliche Sicherheitsstandards.»
Vor allem kleinere Gefängnisse hätten punkto Sicherheit zu wenig Ressourcen. «Um die Sicherheit eines solchen Gefängnisses mit 60 bis 70 Insassen zu gewährleisten, braucht es mehr Personal. Das absolute Minimum wären drei statt zwei Personen.» Fäh warnt: «Es ist gefährlich, bei der Sicherheit in Gefängnissen zu sparen.»
Auch Beat Villiger (58), Vizepräsident der KKJPD, sieht Verbesserungsbedarf. Eine mögliche Konsequenz sei, «dass die Haupttüre nicht von einer Person geöffnet werden kann, sondern nur mit Hilfe einer Zweitperson oder durch die Polizei.» Sinnvoll wären laut Villiger auch zusätzliche Alarmeinrichtungen: «Diese Massnahmen würden nicht zu unverhältnismässigen Zusatzkosten führen.»
Das Zürcher Amt für Justizvollzug reagierte bereits: «Wir haben erste Sofortmassnahmen in puncto Sicherheit getroffen», erklärte Amtssprecherin Rebecca de Silva auf Anfrage von SonntagsBlick. Darüber hinaus habe das Amt inzwischen eine interne Untersuchung eingeleitet. De Silva: «Wir analysieren, ob menschliches Versagen vorliegt oder ob es sich um einen Systemfehler handelt.»
Fest steht: Hassan Kiko hätte ohne Hilfe von Angela Magdici nicht fliehen können. Wenige Monate zuvor hatte sie ihren Mann verlassen, zuletzt lebte sie bei einer Kollegin, die ebenfalls als Gefängniswärterin arbeitet. Ihren BMW X1 hatte Magdici beim Gefängnis parkiert. Mit ihm flohen sie und Kiko in der Nacht auf Dienstag.
So schnell wie jetzt aus dem Gefängnis war Kiko aus dem Leben von Betreuer Gysi verschwunden. «Plötzlich war er weg – ich hörte nie mehr von ihm.»
Offenbar hatte er bei einem Coiffeur in Kreuzlingen TG Arbeit gefunden. Dann folgten die Übergriffe und die Verurteilung. «Ich verurteile diese Taten», sagt Gysi. Und wendet sich direkt an seinen ehemaligen Schützling: «Hassan, komm sofort zurück! Und steh dazu, was du getan hast.»