Das Geschäft mit dem Sex brummt auf Hochtouren. Pünktlich zum Filmstart des Erotik-Bestsellers «Fifty Shades of Grey» fluten Fessel-Kits und Peitschen die Onlineshops. Internetportale für den unverbindlichen Seitensprung boomen. Auf Pornoseiten versprechen Hunderttausende Videos Befriedigung im Schnelldurchgang.
In unserer digitalen Welt ist Sex öffentlich, allgegenwärtig, frei verfügbar. 24 Stunden am Tag. 365 Tage im Jahr. Noch nie wurde so viel Lust gezeigt – und herrschte gleichzeitig so viel Frust. Umfragen beweisen: Schweizer Paare haben immer weniger Sex.
- Gaben 18- bis 30-Jährige vor drei Jahrzehnten noch an, 22- bis 28-mal im Monat Sex zu haben, so sind es heute nur noch vier- bis zehnmal.
- 68 Prozent der Deutschschweizer haben das Gefühl, sie hätten zu selten Sex.
- 20 Prozent sind weniger bis gar nicht zufrieden mit ihrem Liebesleben.
«Seit drei, vier Jahren gibt es eine gewisse Grundmüdigkeit», bestätigt Marco Caimi (53), Männerarzt und Paarberater aus Basel. «Immer mehr Menschen gehen asexuell durchs Leben.» Schuld daran sind Stress, Reizüberflutung, wenig Schlaf. «Die Anforderungen an jeden von uns steigen ständig», so Caimi. «Man muss gut im Job sein, ein guter Partner, ein guter Vater oder eine gute Mutter, und dann noch ein perfekter Liebhaber. Das macht müde.» Der Porno-Boom peitscht auf – aber oft genau in die falsche Richtung. «Im Internet sieht man die wildesten Praktiken», sagt Caimi. Das helfe dem realen Sex mit der Partnerin oder dem Partner aber kaum.
Die vom Internet befeuerte «Turbo-Sexualität» (BLICK-Sexberaterin Caroline Fux) führt zu seltsamen Reaktionen: So landen schon mal gesunde, junge Männer zur Abklärung beim Spezialisten – «aus Angst, nicht mehr zu genügen, weil sie ein völlig verzerrtes Bild davon haben, wie normal gelebte Sexualität sein kann», wie es der Zürcher Urologe Alex Müller (40) sagt. Der Druck führe zu einer «Abwärtsspirale»: Weil sie nicht so oft und so lange Sex haben können, wie das ihnen Pornos vorgaukeln, geraten sie in Versagensängste. Diese setzen sich im Kopf fest – klappts dann im Bett mal nicht mehr, fühlen sich die Männer erst recht als Versager. Und dann geht überhaupt nichts mehr.
Auch Wilf Gasser (57), Arzt, Sexualtherapeut und Präsident der Schweizerischen Evangelischen Allianz, ortet in der Pornoflut ein grosses Problem. Er spricht von einer «Zunahme von Paaren, die Schwierigkeiten haben, in langfristigen Beziehungen ihre Sexualität gut zu leben».
Die Bilder aus den Pornostreifen prägen die Vorstellung: «Sex wird zum Hochleistungssport stilisiert. Dagegen kommt die Realität im eigenen Bett nur schwer ran.» Das schlage auf die Libido. «Immer mehr Männer haben sexuelle Störungen und Erektionsprobleme», sagt Gasser. «Und immer mehr Paare legen den Sex ganz auf Eis.»
Wie schlimm das ist, ist umstritten. «Sex wird total überbewertet», sagt etwa der Wissenschafts-Autor Jörg Zittlau (siehe Interview im Magazin). «Das Interesse an Sexualität lässt nach: weil wir abstumpfen, da der Sex überall ist.» Zittlau plädiert für mehr Gelassenheit. Weniger kopulieren – «das ist ganz normal».
Doch vielen scheint das Knistern im Bett dann doch zu fehlen. Kurse, in denen Paare lernen, ihre Sexualität wiederzubeleben, sind der Renner. Unter Namen wie «Paar-Weise», «Wachsende Intimität» und «PaarLife» bieten Therapeuten und Ärzte Nachhilfe in Sachen Sex an. In Abendkursen, Wochenendseminaren und Beratungen.
Dafür greifen Mann und Frau gerne auch tief in die Tasche. Ein zehnstündiges, «individualisiertes Paartraining» kostet bis zu 1550 Franken. Günstiger geht es per DVD. «Sexualität ist lernbar», sagt Wilf Gasser, der mit seiner Frau Christa fünf Mal im Jahr bis zu 75 Paare zu mehr Leidenschaft verhilft. «Die Paare müssen weg vom Leistungssport-Gedanken – Sex muss Wellness sein!»