Freitagmorgen, Regionalwache Zürich-Oerlikon. Wenn sich Nicole Andermatt ihre Schutzweste überzieht und ihren vier Kilo schweren Gürtel mit Pfefferspray, Handschellen und Pistole umschnallt, weiss sie nicht, was auf sie zukommt. Vielleicht ein Einsatz wie jener, als plötzlich eine verwirrte Frau mit einem Messer in der Hand vor ihr stand. Dass es auch mal gefährlich wird, macht der 34-Jährigen mit den blonden Haaren nichts aus. «Meine Arbeit ist eine Lebensschule, bei der ich ständig über mich selbst hinauswachsen kann.»
Immer mehr Frauen entscheiden sich für die blaue Uniform. Das zeigt sich gerade bei den Polizeischulen. Heute zählen diese ein Drittel Aspirantinnen, wie eine Auswertung der Nachrichtenagentur SDA zeigt. Im Aargau meldeten sich in den letzten zwei Jahren teilweise sogar mehr Frauen als Männer. Und Zürich kommt regelmässig auf fast die Hälfte der Auszubildenden. Das sind Welten im Vergleich zu früher: In den 90ern lag der Frauenanteil im Aargau noch bei drei Prozent.
Andermatts Mutter machte sich anfangs Sorgen
Früher brachte Nicole Andermatt Sieben- und Achtjährigen das Abc bei. So alt ist jetzt der Bub, der nicht zum Unterricht erschienen ist. Er mag öffentliche Verkehrsmittel – es wäre nicht das erste Mal, dass er mit der Bahn eine Extrarunde dreht. Also suchen Andermatt und ihr Streifenpartner an einem Wintermorgen Seite an Seite den Bahnhof Oerlikon ab – sie mit warmer Jacke, er nur mit Kurzarmshirt unter der Weste. An anderen Tagen muss sie sich in einer 30 Kilo schweren Weste vor das tobende Fussballvolk stellen. «Meine Mutter machte sich anfangs Sorgen, dass mir etwas passiere», erzählt sie. Das habe sich aber rasch gelegt. «Sie hat gemerkt, dass ich schwierigen Situationen im Polizeialltag gewachsen bin.» Und wie reagieren die Kollegen auf sie? Drückt bei ihnen auch schon mal der Beschützerinstinkt durch? Ihr Streifenpartner Tobias Rüegg schüttelt den Kopf und erklärt: «Die Polizistinnen können sich genauso gut verteidigen wie ich mich als Mann.» Schliesslich hätten sie ja die gleiche Ausbildung gemacht wie die Männer.
Nun hat auch die Politik das Thema Frauen bei der Polizei entdeckt. Die Zürcher Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart will «den Frauenanteil erhöhen», wie sie sagt. Wie genau, lässt sie derzeit prüfen. Fest steht: «Ich möchte keine Quote einführen.» Sie wolle aber Bedingungen schaffen, «um Kündigungen nach dem Mutterschaftsurlaub zu verhindern.» Denn genau das ist das Problem. Viele Polizistinnen steigen später aus – da nützt auch der Frauenboom in der Ausbildung nichts. Das zeigen die Zahlen der kantonalen Korps, die SonntagsBlick vorliegen. Im Kanton St. Gallen dümpelt ihr Anteil seit Jahren bei acht Prozent herum. Im Aargau liegt er bei 14 Prozent. In den Kantonen Zürich, Bern und Basel immerhin bei 20 Prozent.
Wenig Gehör für gezielte Frauenförderung
Claudia Grande, Vizepräsidentin der Vereinigung Schweizer Polizistinnen (VSP), kennt das Problem. Und auch die Gründe. Die frischgebackenen Mütter wollten einerseits wohl kein zu grosses Risiko mehr eingehen und bevorzugten eine Stelle im Innendienst – was nicht immer möglich sei. Andererseits und vor allem: «In vielen Korps ist flexibles Arbeiten wie Teilzeitarbeit oder Homeoffice noch nicht verbreitet.» Dabei sei es mit der heutigen IT-Vernetzung und der hohen Sicherheit der Systeme möglich, Berichte oder Rapporte von zu Hause aus zu schreiben. Dafür setzt sich der VSP ein, doch stösst er meist auf taube Ohren.
Von gezielter Frauenförderung wollen die meisten Kantone nichts wissen, wie eine Umfrage von SonntagsBlick zeigt. Ausser Basel-Stadt. «Wir schreiben alle Polizeistellen auch 80 Prozent aus, selbst die Offiziersfunktionen», sagt Martin Schütz, der Sprecher des dortigen Justiz- und Sicherheitsdepartements. Dies gezielt, um Frauen zu rekrutieren. Das zeigt Wirkung: Im Rheinkanton sitzen 20 Prozent Frauen im Kader – in der Polizeileitung sind es ein Drittel. Zum Vergleich: In den übrigen Deutschschweizer Kantonen bewegen sich die Frauenanteile zwischen einem und knapp über zehn Prozent.
Westschweizer Kantone machen es vor
Ein anderer Wind weht in der Westschweiz. Kantone wie Waadt und Neuenburg spannen längst ihre Polizistinnen für Rekrutierungskampagnen ein, sagt Carole Wyser, die Betriebschefin bei der Lausanner Stadtpolizei. «Wir achten darauf, dass sich Frauen angesprochen fühlen.» Sie war es auch, die bei der Neuenburger Kantonspolizei etliche Polizistinnen nach dem Mutterschaftsurlaub wieder zurück in den Dienst geholt hat. Auch solche, die Jahre weg vom Job waren. «Wir boten ihnen eine spezielle Weiterbildung für den Wiedereinstieg an.»
Was Zürich, Basel-Stadt und die Westschweizer begriffen haben: «Wenn ein Korps die Bevölkerung widerspiegelt, das heisst punkto Geschlecht und Herkunft durchmischt ist, hat das eine vertrauensfördernde Wirkung», bringt es die Zürcher Stadträtin Karin Rykart auf den Punkt. Zudem: «Gerade im Streifendienst können Frauen eine schwierige Situation häufig entschärfen.»
Das zeigt sich auch im Alltag von Nicole Andermatt. «Es gibt immer wieder Situationen, in denen ich als Frau gefragt bin», sagt sie. Manchmal spricht jemand besser auf sie an als auf ihre männlichen Kollegen. Oder umgekehrt. Manche Männer aus patriarchalen Kulturen weigern sich, ihr Auskunft zu geben. Rückt eine Streife aber wegen häuslicher Gewalt aus, wo die Betroffenen oft Frauen und Kinder sind, ist Andermatt besonders gefordert. Oder bei Sexualdelikten. Denn darin sind sich die Korps einig: Eine Frau hat einen besseren Zugang zu weiblichen Opfern.