Fedpol-Chefin Nicoletta della Valle zum Anti-Terror-Gesetz
«Man darf radikale Ideen haben»

Die Direktorin des Bundesamts für Polizei Nicoletta della Valle verteidigt das Anti-Terror-Gesetz. Bisher hätten die Behörden nicht genügend Möglichkeiten, gegen Gefährder vorzugehen.
Publiziert: 06.06.2021 um 10:27 Uhr
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Aktualisiert: 06.06.2021 um 12:11 Uhr
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Fedpol-Chefin Nicoletta Della Valle: «Wenn ein Mensch in eine radikale Ideologie abdriftet und die Gefahr besteht, dass er eine terroristische Straftat verübt, ist das der Moment, in dem PMT-Massnahmen in Frage kommen.»
Foto: Julie Lovens
Interview: Simon Marti

Frau della Valle, in einer Woche stimmen wir über das Anti-Terror-Gesetz (PMT) ab. Bei einem Ja würde künftig die Vermutung ausreichen, jemand verbreite «Furcht und Schrecken», um einschneidende Massnahmen zu verfügen. Wie kann man so etwas mit gutem Gewissen unterstützen?
Nicoletta della Valle: Wir haben beim Entwurf dieses Gesetzes ja mitgearbeitet. Darum kann ich voll dahinterstehen.

Ihr Fedpol wäre dann in der Lage, Menschen mit Hausarrest zu belegen oder zum Tragen einer elektronischen Fussfessel zu zwingen, die keine Straftat begangen haben. Wie ist das mit rechtsstaatlichen Grundsätzen zu vereinbaren?
Das sind keine Strafen, wir diskutieren nicht über das Strafrecht. Diese Massnahmen sollen vielmehr jemanden daran hindern, sich strafbar zu machen.

Ob man das nun Strafe nennt oder nicht: Es wäre für den Betroffenen eine massive Einschränkung.
Diese Einschränkungen sind keine neuen Erfindungen. Im Umgang mit Hooligans oder bei häuslicher Gewalt geht es auch darum, eine Person daran zu hindern, eine Straftat zu begehen. Das ist der Präventionsauftrag der Polizei und die Erwartung der Bevölkerung an uns.

Und da ist es legitim, die persönlichen Freiheiten einer Person einzuschränken, ohne dass sie eine Straftat begangen hat?
Nur wenn alle anderen Mittel versagt haben. Auch das steht im Gesetz. Wenn sich eine Person radikalisiert, versuchen die Behörden zuerst, mit sozialen oder therapeutischen Massnahmen auf sie einzuwirken und ihr klarzumachen, dass eine menschenverachtende und gewalttätige Ideologie nicht der richtige Weg ist. Aber nochmals, das sind keine Strafen.

Sie nennen es zwar nicht Strafe, aber im Hausarrest kann man nicht frei leben.
Hausarrest ist das letzte Mittel, wenn sich die Person an eine oder mehrere andere Massnahmen nicht gehalten hat. Stellen Sie sich einen jungen Menschen vor, dessen Eltern nicht mehr zu ihm durchdringen, die ihn verloren haben.

Wann ist man «verloren»?
Das heisst, dass dieser Mensch nicht mehr mit seinen Eltern kommuniziert, nur noch mit seinen radikalen Kollegen verkehrt. Wir kennen solche Fälle: Eltern, die voller Angst auf dem Polizeiposten auftauchen, weil sie fürchten, ihr Sohn radikalisiere sich oder reise in den Dschihad.

Die Mittel, die Sie heute zur Verfügung haben, reichen in diesen Fällen nicht aus?
Sie reichen nicht. Meist erfolgt erst dann eine Intervention, wenn dieser junge Mensch bereits eine Straftat begangen hat.

Es ist ja sicher populär, mit Dschihad-Reisenden zu argumentieren. So wie das Gesetz jetzt formuliert ist, kann es aber auch in zig anderen Fällen angewendet werden.
Das Gesetz ist ideologieneutral. Das kann auch andere Radikalisierte betreffen. Wir hatten etwa den Fall eines Mannes, der ankündigte, in einer Moschee möglichst viele Menschen töten zu wollen.

Das haben Sie verhindert.
Ja.

Worum gehts?

Am 13. Juni stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die Polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) ab. Um Anschläge zu verhindern, soll die Polizei früh und präventiv eingreifen können, also noch bevor die Verdachtsperson effektiv eine Straftat begangen hat. Dabei müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass von jemandem eine terroristische Gefahr ausgeht. Die Massnahmen reichen von Befragungen über Rayonverbote bis zum Hausarrest. Bundesrat und Parlament sind für die Vorlage, Kritiker warnen vor einer willkürlichen Anwendung ohne rechtliches Verfahren.

Am 13. Juni stimmt die Schweizer Stimmbevölkerung über die Polizeilichen Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) ab. Um Anschläge zu verhindern, soll die Polizei früh und präventiv eingreifen können, also noch bevor die Verdachtsperson effektiv eine Straftat begangen hat. Dabei müssen konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass von jemandem eine terroristische Gefahr ausgeht. Die Massnahmen reichen von Befragungen über Rayonverbote bis zum Hausarrest. Bundesrat und Parlament sind für die Vorlage, Kritiker warnen vor einer willkürlichen Anwendung ohne rechtliches Verfahren.

Da brauchten Sie das neue Gesetz also nicht.
In diesem Fall lag eine Straftat vor. Dieser Mann ist nun ein Fall für die Strafjustiz. Besser wäre gewesen, wir hätten schon vorher eingreifen können.

Hätte Ihnen das neue Gesetz in diesem konkreten Fall ein frühes Eingreifen ermöglicht?
Ich würde nie sagen, in diesem oder jenem Fall wäre alles anders herausgekommen. Wenn ein Mensch in eine radikale Ideologie abdriftet und die Gefahr besteht, dass er eine terroristische Straftat verübt, ist das der Moment, in dem PMT-Massnahmen in Frage kommen: zum Beispiel verpflichtende Gespräche, um diese Person eng begleiten zu können. So gewinnt man Zeit, damit die Behörden auf den Betroffenen einwirken können.

Aber wie definieren Sie «abdriften»? Was geschieht mit jemandem, der den Kapitalismus abschaffen will oder von der Weltrevolution träumt?
Der fällt natürlich nicht darunter. Man darf radikale Ideen haben, man darf radikal reden. Angst und Schrecken verbreiten ist etwas anderes. Das sind zum Beispiel Drohungen, die bewirken, dass sich niemand mehr traut, auf dem Bundesplatz zu demonstrieren – in der Angst, jemand rase mit dem Auto in die Menge. Und ich kann Ihnen versichern: Wenn dieses Gesetz angewendet werden sollte, wird es Rechtsfälle geben. Die Gerichte werden einschreiten, sollten wir zu weit gehen. So funktioniert unser Rechtsstaat.

Warum warnen dann Rechtsprofessoren vor diesem Gesetz? Warum sagt Nils Melzer, Uno-Sonderberichterstatter für Folter: «Was die Schweiz dann noch von einem repressiven Polizeistaat trennt, ist unser Vertrauen auf den gesunden Menschenverstand der Behörden»?
Es ist richtig, dass sich die Experten unterschiedlich äussern, wie bei jeder Vorlage.

Aber nicht bei jeder Vorlage sehen Experten den Rechtsstaat in Gefahr.
Es ist wichtig, dass sich Experten zum Rechtsstaat äussern. Aufgabe der Polizei ist es, die Bevölkerung zu schützen. Das tun wir mit rechtsstaatlichen Mitteln. Darum sind Bundesrat und Parlament für dieses Gesetz. Die Schweiz ist eines der sichersten Länder der Welt, das soll so bleiben.

Dafür braucht es dieses Gesetz?
Dafür braucht es dieses Gesetz. Wir schliessen eine Lücke zwischen sozialen Präventionsmassnahmen und dem Strafrecht.

Von wie vielen Gefährdern, auf die das Gesetz angewandt werden könnte, gehen Sie aus?
Das ist stark lageabhängig: Was passiert in Syrien, was passiert in der Schweiz? Wir gehen derzeit von ungefähr 30 Fällen pro Jahr aus.

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