Familie Yousef verlor auf der Flucht nach Europa vier Töchter
Neuer Lebensmut dank Yara

Wahid Yousef und seine Frau hoffen noch immer auf ein Lebenszeichen ihrer ­vermissten Kinder. Doch suchen können sie die vier Töchter nicht.
Publiziert: 10.07.2016 um 18:56 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 05:10 Uhr
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Wahid und Hashish Yousef mit Tochter Yara, die ihnen hilft, die Tragödie zu verarbeiten.
Foto: SABINE WUNDERLIN
Roland Gamp

Wahid (53) und Hashish Yousef (35) halten ihre Tochter fest im Arm. Als wollten sie das Kind nie mehr loslassen. «Yara war ein grosses Geschenk für uns», sagen die Eltern aus Syrien. «Sie hat uns neuen Lebensmut geschenkt.»

Wahid war in seiner Heimat Mitglied der Partei der Demokratischen Union (PYD). Weil diese gegen den IS ankämpfte, fürchtete er um sein Leben. Um das seiner Frau. Und um jenes der Töchter Randa (10), Sheihan (8), Nurhan (6) und Kristina (2).

Im Oktober 2013 beschliesst die Familie, über das Mittelmeer nach Europa zu flüchten. Doch ihr Schlepper-Boot ist mit 450 Flüchtlingen heillos überfüllt. Wasser tritt über die Reling, dann setzen die Pumpen aus. 100 Kilometer vor Lampedusa (I) sinkt das Schiff.

«Es war ein grosses Chaos», sagt Wahid. «Ich verlor meine Familie aus den Augen.» Er muss sich an der Schwimmweste einer ertrunkenen Frau festklammern, um zu überleben. Treibt mehrere Stunden im Meer. Dann rettet ihn ein maltesisches Kriegsschiff.

50 Flüchtlinge überleben nicht. Wahid kommt in ein italienisches Auffanglager. Fieberhaft sucht er nach seinen Liebsten. Und findet nach drei Tagen die Ehefrau. Von den vier Töchtern fehlt jede Spur. Auch heute noch.

Yara krabbelt durch die Wohnung in Neuhausen am Rheinfall. Hier, in der Schaffhauser Idylle, kam das Ehepaar nach der Flucht unter. Im August brachte Hashish ihre Tochter zur Welt. «Seither geht es ihr viel besser. Sie kann wieder lachen», sagt Wahid. Nach der Tragödie auf dem Mittelmeer habe seine Frau tagelang kein Wort herausgebracht.

Das Baby hilft den Eltern, den schier unendlichen Schmerz zu verarbeiten. «Trotzdem kann ich in der Nacht oft nicht einschlafen», sagt der gelernte Arzt. «Weil ich an meine Töchter denken muss. Und an die Szenen auf dem Boot.»

Von jedem Kind hängt ein Bild in der Wohnung. Die Fotos sind weiss umrahmt, nicht schwarz. «Wir geben die Hoffnung nicht auf, dass sie doch überlebt haben.» Das Rote Kreuz, die italienischen Behörden und Freiwilligenorganisationen fahndeten nach den Mädchen – ohne Erfolg. Dann meldete sich ein Mann, der mit den Yousefs auf dem Schiff war. Er will beobachtet haben, wie zwei Töchter gerettet wurden.

Seither brennt Wahid darauf, nach Italien zu reisen. Er befürchtet, dass die Organisationen vor Ort heute nicht mehr aktiv fahnden. «Deshalb will ich meine Töchter selber suchen. Aber ich darf nicht.»

Die Eltern erhielten als «vorläufig Aufgenommene» den Aufenthaltsstatus F. Mit diesem ist es verboten, die Schweiz zu verlassen. Für die Ausreise bräuchte Wahid den Status B als «anerkannter Flüchtling». Dieser steht laut Staatssekretariat für Migration (SEM) einer Person zu, die «wegen ihrer politischen Anschauung begründete Furcht hat, Nachteilen ausgesetzt zu werden». Bei ihm sei das der Fall, so Wahid. «Weil ich Mitglied der PYD bin, drohen mir in Syrien schwere Strafen.»

Immerhin erhielt Wahid vor zwei Jahren ein Reisevisum für 30 Tage. Danach musste er in die Schweiz zurückkehren. Ohne seine Töchter. Ein solches Visum beantragte der Syrer erneut. Doch er bekam eine Absage. Offenbar hat Wahid sein Vertrauen bei den Behörden verspielt. In seiner Verzweiflung vermutete er die Töchter in Deutschland. Er machte sich ohne Erlaubnis auf die Suche, wurde erwischt.

Das SEM kann sich zum Einzelfall nicht äussern. Sprecherin Léa Wertheimer: «Jedes Gesuch um Ausstellung eines Reisedokuments wird von uns sorgfältig geprüft.» In einem solchen Fall sei vor allem wichtig, «dass sich die Betroffenen an die zuständigen Polizeistellen wenden.»

Jetzt sitzen die Eltern in ihrer Wohnung fest. Müssen tatenlos darauf warten, dass jemand anderes ihre Töchter findet. «Oder uns zumindest bestätigt, dass sie verstorben sind. Dann hätten wir immerhin Gewissheit», sagt der Arzt. Bis dahin hoffe er weiterhin, seine Töchter irgendwann wieder in die Arme zu schliessen. Und ihnen ihre kleine Schwester vorzustellen.

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