Gestern Abend in Grosny. Familie M.* steigt in der tschetschenischen Hauptstadt aus dem Bus. 35 Stunden hat die Fahrt gedauert. Es gehe allen gut, aber sie seien «todmüde», berichtet Marha (12), die älteste Tochter, am Telefon.
Am Donnerstag, auf dem Weg von Zürich nach Moskau, sass sie noch im Ledersessel eines Privatjets, ass Schoggi, spielte mit dem iPad. Wie die Stars sollten sich Marha und ihre drei Geschwister fühlen. Mit ihren Eltern hatten sie viereinhalb Jahre in Kilchberg ZH gelebt, waren integriert – und wurden trotzdem ausgeschafft (BLICK berichtete).
Mit im Jet waren Kantonspolizisten, ein Arzt, eine Begleitperson der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter. Frühmorgens hatten rund ein Dutzend Beamte in Zivil die Familie in Kilchberg abgeholt. Wohl über 100'000 Franken kostete all das. Allein der Hinflug nach Moskau im Jet verschlingt 50'000 Euro.
Viel Geld, um eine Familie zu entwurzeln, die der Schweiz finanziell nicht zur Last gefallen wäre. Vater Timur M. (40) hatte mehrere Stellenangebote. Die Kinder schrieben gute Noten. Marha und ihre Schwester Linda (11) wollten Ärztinnen werden.
Ihre Chancen auf eine Rückkehr in die Schweiz sind gering. Das Bundesverwaltungsgericht lehnte das Asylgesuch von M. in letzter Instanz ab, obwohl ihn Schergen des tschetschenischen Gewaltherrschers Ramsan Kadyrow (39) verfolgt, verschleppt und gefoltert haben sollen. Die verdächtigten ihn, Rebellen zu unterstützen.
2008 war der Vater nach Polen geflohen. Dort unterlief ihm ein Fehler: Er reiste 2011 kurz nach Tschetschenien zurück, weil er dachte, es sei sicherer. Erneut suchten Schergen ihn auf – er floh, kam im November im Jura an.
Die Rückreise wurde im Asylverfahren in der Schweiz gegen ihn verwendet. Das Staatssekretariat für Migration glaubt M. nicht. Es beurteilte dessen Vorladung zu einer Strafverhandlung nach Grosny als Fälschung.
Der Anwalt der Familie versuchte, die drohende Rückführung als unzumutbar beurteilen zu lassen. «Der Vater hat das Pech, seine Not nicht beweisen zu können», sagt Ronie Bürgin (49) vom Komitee «Hier zu Hause», das sich ebenfalls für den Verbleib der Familie einsetzte. «Alle ärztlichen Gutachten sprechen dafür, dass er die Wahrheit sagt.» M. leide «sehr wahrscheinlich» an einer «Traumafolgestörung», beurteilt ihn das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Universitätsspitals Zürich.
Wenn sich ein medizinischer Befund verschlechtert, kann dies eine Rückführung stoppen. Doch das Gericht befand, zur Not gebe es ja in Grosny psychiatrische Kliniken. Dass die Lage in Tschetschenien das Trauma überhaupt erst ausgelöst hat, wollte es nicht sehen.
Das Kindswohl ist zu berücksichtigen, besagt die Uno-Kinderkonvention
Nur wenige Tschetschenen bitten in der Schweiz um Asyl. Daher fehlen klare Normen dafür, was zumutbar ist. Der Ermessensspielraum der Behörden ist gross. Sie könnten sich an der Kinderkonvention der Uno orientieren. Diese besagt: Das Kindswohl ist zu berücksichtigen.
Zudem stelle sich die Frage, ob eine Reintegration in Tschetschenien überhaupt vorstellbar ist. Die vier Kinder sprechen perfekt Züritüütsch, sie hatten enge Freundschaften. Aus Neugier besuchten die Muslime schon mal den reformierten Gottesdienst.
Doch ausgerechnet diese tadellose Anpassung geriet ihnen zum Verhängnis. Wer so integrationsfähig sei, könne es auch erneut schaffen, sagten die Richter.
Hängig ist eine Aufsichtsbeschwerde wegen eines misslungenen Ausschaffungsversuchs am 18. September. Da klingelte es morgens um vier an der Tür. Marha öffnet. Uniformierte Polizisten fragen nach den Eltern, Marha will die Tür schliessen, doch die Beamten verschaffen sich Zutritt.
Die Mutter erwacht. Sie bittet die Tochter, eine Freundin zu benachrichtigen. Ein Polizist hindert sie daran. Im Nu muss die Mutter für sie und die vier Kinder packen, damit die Beamten sie zum Flughafen bringen können. Der Vater schläft in einer psychiatrischen Klinik. Bis ihn die Polizei der ärztlichen Obhut entreisst.
Grotesk die Szene am Flughafen: Den Kindern wird gesagt, der Vater sitze im Flugzeug. Es ist ein Trick. Anvar (15) und Marha betreten die Kabine. Die Mutter aber, der kleine Mansur (4) und Linda weigern sich, werfen sich zu Boden. Der Vater muss zusehen. Die Polizei bricht die Aktion ab, legt dem Vater Handschellen an. Wegen des Amtsgeheimnisses nimmt die Polizei keine Stellung.
Nicht aufgeben wollen die Kilchberger. «Wir bereiten ein Gesuch für den Härtefall vor und werden dies schnell einreichen», so Bürgin. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
* Namen der Redaktion bekannt
Unmissverständlich warnt das EDA davor, Tschetschenien zu besuchen. Weder die russsischen noch lokale Behörden könnten die Sicherheit gewährleisten. Regiert wird die autonome russische Republik von Ramsan Kadyrow (39, Foto), einem «Gewaltherrscher von Putins Gnaden», so der Radio-Korrespondent von SRF. Offen spreche Kadyrow Morddrohungen gegen Gegner aus. Zunehmend islamisiere er das Land, setze strikte religiöse Gesetze durch. Kritiker würden verschwinden und gefoltert. Es gebe keine politische Opposition mehr.
Eine Aktivistin der International Crisis Group spricht von «schwersten Menschenrechtsverletzungen». Bewaffnete Männer kontrollierten, ob Frauen sich züchtig kleiden. Dort leben jetzt die Mädchen aus Kilchberg.
Unmissverständlich warnt das EDA davor, Tschetschenien zu besuchen. Weder die russsischen noch lokale Behörden könnten die Sicherheit gewährleisten. Regiert wird die autonome russische Republik von Ramsan Kadyrow (39, Foto), einem «Gewaltherrscher von Putins Gnaden», so der Radio-Korrespondent von SRF. Offen spreche Kadyrow Morddrohungen gegen Gegner aus. Zunehmend islamisiere er das Land, setze strikte religiöse Gesetze durch. Kritiker würden verschwinden und gefoltert. Es gebe keine politische Opposition mehr.
Eine Aktivistin der International Crisis Group spricht von «schwersten Menschenrechtsverletzungen». Bewaffnete Männer kontrollierten, ob Frauen sich züchtig kleiden. Dort leben jetzt die Mädchen aus Kilchberg.
Eine voll integrierte Familie muss die Schweiz verlassen – unmenschlich und unwürdig. Ein Kommentar von BLICK-Autor Peter Hossli.
Es ist die Floskel der Asyl-Debatte: Integration. Rechte monieren, vielen Flüchtlingen in der Schweiz fehle es am Willen, sich hier zu integrieren. Linke klagen, es mangle an staatlicher Hilfe, die eine gute Integration erst möglich mache.
Bestens integriert war eine tschetschenische Familie, die in Kilchberg am Zürichsee lebte. Trotzdem musste sie gestern die Schweiz verlassen. Perfekt Züritüütsch sprechen die vier Kinder. Sie mögen Fondue, schrieben gute Noten, hatten enge Freunde, fielen niemandem zur Last. «Die Schweiz ist doch meine Heimat», sagte die zwölfjährige Marha. Nun ist sie weg.
Wegen sturer Behörden lebt das Mädchen fortan in einem repressiven Land. Obwohl ihre integrierte Familie ein echter Härtefall wäre, der eine Rückführung trotz abgelehnten Asylgesuchs verhindern könnte. Doch der greift erst nach fünf Jahren. Marhas Familie fehlten fünf Monate. Statt Herz zu zeigen, beharrten Beamte stur auf dem Rechtsweg. Dass diese Kinder nun ihren Freunden entrissen werden, ist unmenschlich. Und der humanitären Schweiz unwürdig.
Eine voll integrierte Familie muss die Schweiz verlassen – unmenschlich und unwürdig. Ein Kommentar von BLICK-Autor Peter Hossli.
Es ist die Floskel der Asyl-Debatte: Integration. Rechte monieren, vielen Flüchtlingen in der Schweiz fehle es am Willen, sich hier zu integrieren. Linke klagen, es mangle an staatlicher Hilfe, die eine gute Integration erst möglich mache.
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