Fachleute besorgt
«Du hol Blatt» – immer mehr Kinder kämpfen mit Sprachstörungen

In der Schweiz deutet sich ein neuer Trend an: Immer mehr Kinder müssen in die Logopädie. Sie kämpfen mit Sprachentwicklungsstörungen. Wir zeigen, weshalb.
Publiziert: 09.02.2024 um 00:01 Uhr
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Fachleute beobachten: Sprachstörungen bei jüngeren Kindern nehmen zu.
Foto: Getty Images
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin

Ein Bub zeigt auf sein Spielzeug und sagt: «Tannst du mir deben.» Ein Mädchen will ihren «Keggy» im Bett haben und meint eigentlich Teddy. Manche Kinder vertauschen Laute, machen aus einem k ein t oder aus einem d ein g, sie lispeln, kriegen das Sch nicht ausgesprochen, stottern oder verstummen gar. Thomas Minder, der oberste Schulleiter der Schweiz, kennt Sprachentwicklungsstörungen gut. Zu gut. Er leitet die Volksschule im thurgauischen Eschlikon. Und dort macht ihm eine Entwicklung Sorgen: Die Zahl der Kinder, die in die Logopädie müssen, stieg in den vergangenen vier Jahren sprunghaft an. So äussert sich das: «Auffallend viele kleine Kinder können vor dem Eintritt in den Kindergarten kaum sprechen», sagte er kürzlich der «NZZ am Sonntag». 

Die vorliegende Recherche zeigt: Minders Schule ist kein Einzelfall. Sie ist Teil eines schweizweiten Trends, der sich abzeichnet. Fachleute sind besorgt.

Auch in Deutschland ein Thema

Der Haken: Es gibt keine offiziellen Zahlen zu Sprachstörungen oder Logopädie-Verordnungen in der Schweiz. Der Deutschschweizer Logopädinnen- und Logopädenverband (DLV) schaute sich für eine Studie 35 Gemeinden genauer an und kam 2021 zum Schluss: 9,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler ab Primarschulstufe sind in der Logopädie. Mehr Aufschluss gibt Deutschland. Ende letzten Jahres sorgte das Studienergebnis der Krankenkasse KKH für Schlagzeilen: Der Anteil der Versicherten zwischen 6 und 18 Jahren, die in der Logopädie sind, stieg in den vergangenen zehn Jahren um rund 60 Prozent.

In der Schweiz ist eine Debatte über Sprachentwicklungsdefizite offenbar heikel. Weder der DLV noch angefragte Logopädie-Forschende wollen sich wegen der fehlenden Erhebungen auf die Äste rauslassen. Überall heisst es: Die Sache sei zu komplex für einfache Aussagen.

Doch bei angefragten Schweizer Spezialisten zeigt sich ebenfalls eine Zunahme.

Dorothee Miyoshi von der Geschäftsleitung des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) weiss aus Gesprächen mit Lehrpersonen: «Die sprachlichen Fähigkeiten von Kindern im Kindergarten und der Unterstufe haben in den letzten Jahren abgenommen.» Egal, ob mit oder ohne Migrationshintergrund. Oft fehlt es den Kindern am deutschen Wortschatz, oder sie können kaum grammatikalisch korrekte Sätze bilden – sie sagen zum Beispiel: «Du hol Blatt.» Paradox ist: Seit einiger Zeit sprechen von diesen Kindern manche recht gut Englisch, sagt Miyoshi.

Bei Jonas Walde, Leiter der Praxis Logopädie im Zentrum in Aarau, trifft das Thema einen «grossen Nerv». Er schwimmt in Anfragen. Noch 2019 behandelten er und seine Mutter zu zweit insgesamt 30 Kinder. Jetzt sind es 150 Kinder pro Woche – verteilt auf acht Logopädinnen und Logopäden. Er sagt: «Die Nachfrage ist viel grösser als das, was wir leisten können.» 60 Kinder stünden auf der Warteliste. Er steht mit einigen Aargauer Schulgemeinden in Kontakt, die deshalb ebenfalls am Anschlag sind.

Fluch Bildschirm

Die heutige Gesellschaft ist sensibilisiert, Sprachfehler entdeckt man schneller als früher. Doch Thomas Minder, Dorothee Miyoshi und Jonas Walde vermuten noch einen anderen Treiber des Phänomens: Bildschirme und ihre Omnipräsenz.

Der Logopäde Walde sagt, schon bei kleineren Kindern, die er abklärt, sei der Medienkonsum «massiv hoch». Er weiss von einer Dreijährigen, die ein eigenes Handy hat. Vorletzte Woche sagte ihm eine Mutter, sie wisse nicht, wie viel Zeit ihr Bub vor dem Bildschirm verbringe, beide Elternteile müssten Vollzeit arbeiten, keiner kontrolliert. Für Walde Alltag.

Umfangreiche aktuelle Studien aus Japan und Singapur, die Kinder und ihre Eltern über Jahre begleitet haben, stützen das: Verbringen Kleinkinder viel Zeit am Bildschirm, verzögert sich ihre Entwicklung. Sie sprechen später und weniger und haben später auch mehr Schwierigkeiten, sich altersgerecht mitzuteilen.

Eltern reden zu wenig mit den Kindern

Dorothee Miyoshi vom LCH vermutet einen weiteren Grund: «Etliche Eltern sprechen generell weniger mit den Kindern, weil sie mit dem Bewältigen von Kindern und Arbeit sowie auch mit Medien beschäftigt sind.» Zu kurz komme deshalb auch: gemeinsam ein Bilderbuch anschauen und das Geschichtenerzählen. Durch all das lernten Kinder sprechen, sagt sie. Und durch Bewegung, am besten im Freien. Nur so mache das Hirn die für den Spracherwerb nötigen Verknüpfungen. Das sei rarer geworden. Wenn sie beruflich mit Kindern in den Wald gehe, könnten manche schlecht auf dem unebenen Boden laufen. «Sie sind es sich nicht mehr gewohnt.»

Wer das alles wieder geraderückt, ist unklar. Zumal es, wie Logopädie-Verbände schon seit Jahren anprangern, an Logopäden und Logopädinnen mangelt. Auch bei Schulleiter Thomas Minder in Eschlikon. Er sagt über den Mangel: «Das macht uns derzeit das Leben schwer.»

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