Extremsportlerin Evelyne Binsack über ihr grösstes Abenteuer
«Ich gebe nicht beim ersten Sturm auf»

Vom Berner Oberland an den Nordpol: Die Expedition von Evelyne Binsack (50) wäre ohne Scheitern und persönliche Krisen unmöglich ­gewesen. Die Extremsportlerin über das Treffen mit einem Eisbären und das erste Butterbrot zu Hause.
Publiziert: 13.11.2017 um 22:11 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 03:25 Uhr
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Die diplomierte Bergführerin beim Klettern in Meiringen-Hasliberg BE.
Foto: Peter Mosimann
Interview: Franziska Müller

Frau Binsack, man ­bezeichnet Sie als ­Abenteurerin, die sich den ­eigenen Grenzen stellt, aber auch über ihre ­Limiten hinausgeht. Andere ­halten sportliche Extrem­erfahrungen für Spinnerei.
Evelyne Binsack: Spinnerei bedeutet, etwas zu tun, ohne sich über die Konsequenzen im Klaren zu sein. Ich bin eine ausgebildete Bergführerin und erfahrene Alpinistin auf hohem Niveau. Das Risiko, am Berg oder auf einer Polar-Expedition zu sterben, ist natürlich trotzdem gross. Um zu überleben, hilft die ­Erfahrung und das Wissen über die eigenen physischen und psychischen Kräfte. Und Selbsterkenntnis.

Oder mit Jean Cocteaus Worten: «Man muss wissen, wie weit man zu weit gehen darf»?
Ja. Aufgeben ist tatsächlich die grösste Herausforderung, vor allem wenn man viel investiert hat. Viele Menschen scheitern daran, nicht scheitern zu können. Nicht nur am Berg und auf Expeditionen, auch im Berufsleben. An einem achttausend Meter hohen Berg kann ein Nichtscheiternkönnen relativ schnell zum Tod führen. Etwa wenn man die Symptome ­einer Höhenkrankheit ignoriert und nicht sofort absteigt. Auch bei der aktuellen Nordpol-Expedition musste ich die dritte Etappe auf Spitzbergen aufgrund extremer Wetterbedingungen schweren Herzens abbrechen. Alles andere wäre fahrlässig gewesen.

Haben solche Rückschläge ­trotzdem eine Auswirkung auf das Selbstvertrauen?
Sicher. Gleichzeitig vertraut man sich selbst umso mehr, im Wissen, dass man trotz Ehrgeiz und Verbissenheit nicht alle Risiken zulässt. Dass ich mich für die vierte und letzte Etappe zum Nordpol für die Sicherheit und somit für die Teamarbeit entschied, anstatt wie vorgesehen alleine zu gehen, war auf den Rückzug von der dritten Etappe ­zurückzuführen. Mit der neuen Planänderung tat ich mich anfänglich sehr schwer. Als ich erkannte, dass mir die sehr hohen Ansprüche an mich selbst im Weg stehen, empfand ich die Entscheidung nicht mehr als Niederlage, sondern als wertvolle Erkenntnis.

Sie waren auch an einem Tiefpunkt Ihres Lebens angelangt, als Sie sich für die rund 100-­tägige Extrem-Expedition zum Nordpol entschieden, wie Sie in Ihrem Buch «Grenzgängerin – Leben für drei Pole» erzählen. Was war geschehen?
Die drei wichtigsten Säulen im Leben – Beruf, Gesundheit und Partnerschaft – gerieten Schlag auf Schlag aus dem Lot. Bei einer Expedition auf einen Achttausender im Himalaja reagierte mein vegetatives Nervensystem plötzlich chaotisch. Ein Jahr später führte ein unverschuldeter Unfall zu einem Schädel-Hirn-Trauma, und ein weiteres Jahr später, just an meinem 45. Geburtstag, erklärte mir mein damaliger Lebenspartner, er liebe eine andere Frau. Das «Projekt Nordpol» hat mich aus der Krise ­befreit und half mir, mein Leben wieder in den Griff zu bekommen.

Im pastellfarbenen Abendlicht, so schreibt Binsack, erlebe sie einen Moment, den sie von ihren Reisen zum Südpol und auf den Mount Everest kennt: Das Herz singt vor Freude, weil die Seele zu Hause ist.
Foto: Evelyne Binsack

Ist das Scheitern in der Liebe härter als jenes auf einer Expedition?
Schwierig ist sicher, dass man in der Liebe das Heft nicht immer selbst in den Händen hält und andere Leute wichtige Entscheidungen treffen. Etwa eine Trennung. Die Fähigkeit, mich zu hundert Prozent einer Sache oder einem Menschen zu verschreiben, hat sich mit den Jahren verstärkt, weil ich Expeditionen unternommen habe, die Willenskraft, Leidens- und Opferbereitschaft erforderten. Ich gebe nicht beim ersten Sturm auf. Dies erwartete ich wohl unbewusst auch von meinem Partner. Umso grösser war das Unverständnis und die Enttäuschung, als dieser Anspruch nicht erfüllt wurde.

Intensive Vorbereitungs­arbeiten sind nötig, um eine ­Extrem-Expedition zu starten. Wie lief es dieses Mal ab?
Von der Fellkapuze, die ich selbst nähte, bis zu den angefutterten Fettreserven – eine Expedition in polare Regionen verzeiht keine Fehler. Vor allem dann nicht, wenn man plant, alleine unterwegs zu sein. Nebst Hunderten von Dingen und einem täglichen Training von bis zu fünf Stunden muss man auch viele Bewilligungen einholen und das nötige Geld zusammenkratzen.

Trainingspläne, Mental-Trainer, Ernährungswissenschaftler: Manche Extremsportler sagen, Höchstleistungen seien nur unter Einbezug solcher Experten möglich. Was glauben Sie?
Der eigene Wert scheint mit einem solchen Tross im Hintergrund vergrössert. Ich vertraue lieber auf meinen Körper und Instinkt. Auf einer Expedition, die mir alles abverlangt und sehr risikoreich ist, möchte ich frei entscheiden können und nicht den Druck der Sponsoren spüren. Erst freute ich mich für Ueli Steck, wie die Wirtschaftsmaschine für ihn ein Sprungbrett war und ihn zu Höchstleistungen motivierte. Später merkte ich mit zunehmender Besorgnis, wie ihn diese Maschinerie auszuhöhlen begann.

Was wollen Sie damit sagen?
Dass es unter Druck von aussen eher schwierig wird, für sich alleine zu entscheiden. Man richtet den Fokus nicht mehr nur auf die Sache und sich, was im Hochrisikobereich verheerende Folgen haben kann.

Warum ist der typische Alpinist eigentlich ein Mann?
Weil mit ihm ein Archetypus verbunden ist. Dieser Held geht, quasi stellvertretend für alle Nicht-Helden, in die wilde Welt hinaus und meistert seine Aufgaben. Er ist unerreichbar, er ist ein Vorbild. Ein weiblicher Alpinist und Extremsportler kann allenfalls eine Inspiration sein, eine Ermutigung für andere. Denn: Was eine Frau schafft, so meint man zumindest, können alle anderen auch schaffen.

Ist der Konkurrenzdruck ­unter­einander spürbar?
Ich stehe nicht unter Konkurrenzdruck. Auf dem Mount Everest war ich die erste Schweizerin. Zum Südpol reiste ich mit dem Fahrrad über das Festland ohne Team, ­alleine mit bis zu 45 Kilogramm ­Gepäck. Ohne Windsegel und ohne Aussenunterstützung startete ich auch in Richtung Nordpol. Zuerst mit dem Fahrrad, dann mit Ski und Schlitten. Auch da gab es keine Konkurrenz, denn bis heute hat dies noch niemand so gemacht.

Welcher Streckenabschnitt bleibt als besonders eindrucksvoll in Erinnerung?
Die erste Fahrradetappe bis zum Nordkap – rund 5000 Kilometer – fuhr ich mit Tourenvelo und Ausrüstung. Das war der einfachere Teil. Die Grönland-Traversierung mit rund 650 Marschkilometern über das Inlandeis bei Temperaturen unter minus 30 Grad genoss ich, weil ich hier noch, wie geplant, im Team unterwegs war. Die dritte Etappe, die Durchquerung von Spitzbergen, hatte es wie gesagt in sich.

Auch die vierte Etappe verlief nicht reibungslos. Was geschah?
Wir begegneten einem Eisbären, der dieses Zusammentreffen vermutlich nur schwer verletzt überlebt hat. Über sein weiteres Schicksal wissen wir leider nichts. Der schiessende Kollege geriet in Panik und hielt sich nicht an die übliche Regel, mehrere Warnschüsse abzugeben, bevor auf ein Tier geschossen wird. Dass ein Mensch in einer Notsituation überreagiert, konnte ich verstehen. Was mich jedoch ­erschütterte, war, dass die verantwortliche Person die Wahrheit unter den Teppich zu kehren versuchte. Deswegen machte ich nach der Expedition mit anderen gemeinsam eine Zusammenfassung der Geschehnisse. Damit solche Vor­fälle in Zukunft verhindert werden können.

Was geschieht mit dem Geist, wenn man während ­Wochen Hunderte Kilometer Eis- und Schneefelder durchquert und dabei nichts anderes tut, als einen Fuss vor den anderen zu setzen?
Das tagelange Gehen in einer menschenfeindlichen, monotonen und in den Farben sich nicht stark abweichenden Gegend braucht innere Ruhe. Um meine Gedanken zu führen, rezitiere ich christliche ­Gebete, die mir beim Gehen einen Rhythmus vermitteln, oder ich summe buddhistische Mantras vor mich hin.

Lehren einen Eis und Wasser ­etwas anderes als die Berge?
Ja. Am Berg ist man mit dem Geist immer beschäftigt. Man sucht die Route, man löst eine schwierige Kletterstelle, man beurteilt die Lawinengefahr. Die Polarregionen verlangen auch einen wachsamen Geist. Doch die Monotonie führt zu einer Läuterung des Geistes.

Einen Monat vor Ihrem 50. Geburtstag erreichten Sie im vergangenen April Ihr Ziel und beendeten die Expedition ­erfolgreich. Wie sieht der ­Nordpol aus?
Wunderschön. Bereits am Vortag präsentierte sich das Nordpolarmeer in mystischem Licht mit Schleiern und Nebelschwaden, die über das gefrorene Wasser glitten. Der Pol beschreibt jenen Punkt, an dem alle Längengrade zusammenlaufen. Er liegt auf einer gefrorenen Eisdecke mit ruhigen Eisplatten und wild aufgetürmten Eisschollen.

Nach monatelanger Abgeschiedenheit und Verzicht kehren Sie jeweils in die Zivilisation zurück. Ist das ein Schock?
Ja und nein. Als Erstes nehme ich ein heisses Bad und esse frische Früchte, Salat und knuspriges Brot, das ich dick mit Schweizer Butter bestreiche. Nach solchen Expedi­tionen bin ich seelisch und geistig gereinigt. In diesem Zustand kann ich in die Menschen hineinblicken, ihre wahren Stimmungen und Absichten wahrnehmen. Leider geht diese Fähigkeit wieder verloren, denn das hektische Leben in der Zivilisation macht es mir unmöglich, diese Sensitivität über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten.

Brechen Sie auch darum wieder zu neuen Abenteuern auf?
Ja. Aber auch um zu erfahren, dass man in kritischen Situationen Leidensfähigkeit entwickeln kann, die einen über die eigenen Grenzen ­hinausführt.

Alpinistin und Abenteurerin

Evelyne Binsack (50) startete ihre Karriere mit einer Ausbildung als Sportartikel-Verkäuferin und verfolgte gleichzeitig eine Laufbahn in der Leichtathletik. 1991 absolvierte sie als eine der ersten Frauen in Europa die Ausbildung zur diplomierten Bergführerin. 2001 erklomm sie als erste Schweizerin den Mount Everest und machte in den folgenden ­Jahren mit spektakulären Touren von sich reden. In der Zwischenzeit zur Dokfilmerin ausgebildet, erreichte Binsack im ­April 2017 nach einer 100-tägigen Expedition den Nordpol. Dieses Abenteuer hat sie zusammen mit ihrer Co-Autorin Doris Büchel in einem neuen Buch verarbeitet. Evelyne Binsack ist Single und lebt in einem Holzhaus im Berner Oberland, das sie selbst entworfen hat.

Buchtipp: Evelyne Binsack, «Grenzgängerin», ­Wörterseh Verlag

Evelyne Binsack (50) startete ihre Karriere mit einer Ausbildung als Sportartikel-Verkäuferin und verfolgte gleichzeitig eine Laufbahn in der Leichtathletik. 1991 absolvierte sie als eine der ersten Frauen in Europa die Ausbildung zur diplomierten Bergführerin. 2001 erklomm sie als erste Schweizerin den Mount Everest und machte in den folgenden ­Jahren mit spektakulären Touren von sich reden. In der Zwischenzeit zur Dokfilmerin ausgebildet, erreichte Binsack im ­April 2017 nach einer 100-tägigen Expedition den Nordpol. Dieses Abenteuer hat sie zusammen mit ihrer Co-Autorin Doris Büchel in einem neuen Buch verarbeitet. Evelyne Binsack ist Single und lebt in einem Holzhaus im Berner Oberland, das sie selbst entworfen hat.

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